Rz. 22
Voraussetzung für die Änderung eines bestandskräftigen VA nach § 48 ist eine wesentliche Änderung der Sach- oder/und Rechtslage. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sie für den vorliegenden VA in dem Sinn Bedeutung hat, dass dieser nach dem jetzigen Sachverhalt und/oder der jetzt vorliegenden Rechtslage nicht, nicht mehr oder nicht so erlassen werden dürfte. Welche Änderungen wesentlich sind, kann sich immer nur nach der oder den der materiellen Entscheidung zugrunde gelegten oder nun zugrunde zu legenden Rechtsvorschriften richten, so dass wesentlich gleichbedeutend mit rechtserheblich ist (BSG, Urteil v. 6.11.1985, 10 RKg 3/84, SozR 1300 § 48 Nr. 19). Eine wesentliche Änderung, die zur Entziehung einer Rente berechtigt, liegt nicht schon allein in der Verbesserung der gesundheitlichen Situation. Die Veränderung der gesundheitlichen Situation ist vielmehr erst dann wesentlich, wenn die im Ausgangsbescheid enthaltene Regelung objektiv nicht mehr gerechtfertigt ist (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 11.4.2006, L 22 KN 7/04). Eine solche wesentliche Änderung liegt nicht vor, wenn die Rentengewährung im Ausgangsbescheid wegen der Unfähigkeit gewährt wurde, noch Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten und nunmehr eine Rentengewährung wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes gerechtfertigt wäre (LSG Berlin-Brandenburg, a. a. O.). Keine wesentliche Änderung liegt vor, wenn sich der GdB/die MdE nur um 5 Grad/5 % geändert hat, weil diese nur in 10-er Schritten festgestellt werden (Straßfeld, SGb 2003, S. 88 f. [89]). Eine andere Beurteilung ist aber dann ausnahmsweise geboten, wenn sich gerade durch diese Erhöhung erst ein feststellungsfähiger GdB (ab 20) oder eine Rentenberechtigung (z. B. ab 25 % nach § 31 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BVG) ergibt (Steinwedel, in: KassKomm, § 48 Rz. 19). Nicht jede Verschlimmerung eines Einzel-GdB um 10 ist eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1. Maßgeblich ist vielmehr, ob sich der Gesamt-GdB um 10 erhöht oder verringert. Bei der Neufeststellung des Gesamt-GdB als Folge einer Änderung zu Gunsten des Behinderten wird der im alten Bescheid festgestellte Gesamt-GdB nicht hochgerechnet, sondern der Gesamt-GdB wird unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Leiden neu ermittelt (Straßfeld, SGb 2003 S. 89, unter Hinweis auf BSG, Urteil v. 19.9.2000, B 9 SB 3/00 R, SozR-3-1300 § 45 Nr. 43).
Rz. 22a
Nach Auffassung des SG Kassel (Urteil v. 11.6.2010, S 2 U 47/08) soll trotz der Regelung in § 73 Abs. 3 SGB VII (höhere Verletztenrente nur bei Änderung der MdE um mehr als 5 %) eine wesentliche Änderung vorliegen, wenn eine Sehbehinderung auf einem Auge, die zuvor mit 20 v. H. bewertet worden ist, sich so weit verschlimmert, dass sie der Blindheit auf einem Auge entspricht und daher mit 25 % zu bewerten wäre. Sein Ergebnis begründet das SG unter Hinweis auf den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz mit der Tatsache, dass bei einer sofortigen Erblindung eines Auges eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 %, gezahlt würde, während bei einer anfänglichen MdE von 20 % praktisch keine Chance bestünde, eine Rente in gleicher Höhe nach einer späteren Verschlimmerung zu erhalten. Dies sei eine "offensichtliche Gerechtigkeitslücke", die kompensiert werden müsse (nach Auffassung des SG dort allerdings durch Anwendung des § 46). Ähnlich wie bereits das Hess. LSG (Urteil v. 6.5.2012, 3 U 140/10), das das Urteil des SG Kassel aufgehoben hat, ist auch das BSG dieser Auffassung nicht gefolgt und hat erneut entschieden, dass eine Abänderung nach § 48 Abs. 1 nur bei einer Abweichung in der MdE um mindestens 10 % in Betracht kommt (BSG, Urteil v. 19.12.2013, B 2 U 17/12 R). Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitsgrundsatz) liege nicht vor. Keine wesentliche Änderung liegt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (hier: MdE) vor, wenn ein Oberschenkelamputierter mit einer mikroprozessorgestützten Prothese versorgt wird (BSG, Urteil v. 20.12.2016, B 2 U 11715 R).
Bei Leistungen der Eingliederungshilfe für den Förder- und Betreuungsbereich nach dem SGB XII stellt der Eintritt der Regelaltersgrenze (hier: 65 Jahre) keine wesentliche Änderung dar (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 7.12.2016, L 2 SO 1652/16).
Rz. 22b
Bei Ermessensleistungen ist eine wesentliche Änderung anzunehmen, wenn sich neue Tatsachen ergeben, die eine abweichende Ermessensausübung ermöglicht hätten.
Rz. 23
Zu vergleichen sind die Verhältnisse gegenüber dem Erlass des ursprünglichen VA (§ 37) zum Zeitpunkt, in dem der Bescheid die Behörde verließ, die rechtliche und tatsächliche Prüfung des Anspruchs also abgeschlossen ist. Soweit daher zwischen diesem Zeitpunkt und dem des Zugangs beim Betroffenen Änderungen eintreten, sind diese nach Erlass des Bescheides eingetreten, denn sie konnten und durften bei Erlass (noch) nicht berücksichtigt werden (vgl. Kurr, SGb 1995 S. 288).
Rz. 24
Ob eine eingetretene Änderung wesentlich ist, unterliegt der vollen Überprüfung der G...