3.1 Der gerichtliche Vergleich

3.1.1 Rechtsnatur

 

Rz. 3

Der gerichtliche Vergleich hat nach h. M. eine Doppelnatur. Er ist zugleich materiell-rechtlicher Vertrag, regelmäßig ein öffentlich-rechtlicher, und Prozesshandlung (BSGE 7 S. 279, 280 f.; BSGE 19 S. 112, 115; BSG, Urteil v. 17.5.1989, 10 RKg 16/88, SozR 1500 § 101 Nr. 8; LSG NRW, Urteil v. 2.11.2006, L 1 AL 24/06; LSG Brandenburg, Urteil v. 22.5.2002, L 3 KN 43/01, HVBG-INFO 2003 S. 399; siehe auch Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 101 Rn. 3 m. w. N.; a. A.: Zeihe, § 101 Rn. 5b, 7a).

 

Rz. 4

Weil er unter anderem eine Prozesshandlung ist, welche den Prozess beendet, müssen die Wirksamkeitsvoraussetzungen für Prozesshandlungen erfüllt sein. Insbesondere kann ein Vergleich nur wirksam vereinbart werden, wenn die Prozessfähigkeit gegeben war (BSGE 19 S. 112, 115). In materieller Hinsicht muss der Vergleich je nach öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur mit § 54 SGB X bzw. mit § 779 BGB übereinstimmen. Nach h. M. muss der Vergleich daher durch ein gegenseitiges Nachgeben geprägt sein. Allerdings kann das Nachgeben auch rein prozessualer Natur sein (BSG, SozR § 101 Nr. 8), so dass sich kaum Auswirkungen hieraus ergeben. Der Annahme eines wirksamen Vergleichs steht es daher nicht entgegen, wenn der Kläger sich mit seinem Anspruch materiell-rechtlich voll durchsetzt, er aber im Gegenzug die Klage zurücknimmt, oder wenn er die Klage zurücknimmt, die Beklagte sich aber bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen oder die Angelegenheit noch einmal zu überprüfen.

3.1.2 Voraussetzungen

 

Rz. 5

Damit ein gerichtlicher Vergleich als solcher wirksam ist, muss er vor dem Gericht, bei dem die Sache rechtshängig ist, zwischen den richtigen Beteiligten unter Beachtung der Regelungen des Prozessrechts sowie des einschlägigen materiellen Rechts zustande kommen. Die Unwirksamkeit des Vergleichs kann sich daher insbesondere aus der Nichtigkeit oder wirksamen Anfechtung des materiellen Vertrags oder der Unwirksamkeit einer Prozesshandlung ergeben.

 

Rz. 6

Ist der Vergleich aus materiellen Gründen unwirksam, so entfaltet er auch prozessrechtlich keine Wirkungen. Nach der Rechtsprechung des BSG finden auf den Vergleich als Vertrag i. S. d. § 779 BGB grundsätzlich die BGB-Vorschriften entsprechende Anwendung (BSGE 7 S. 279, 280). Umstritten ist, ob die allgemeinen Anfechtungsregelungen der §§ 119 ff. BGB auf Prozessvergleiche angewendet werden können (ablehnend: LSG NRW, Urteil v. 26.5.2010, L 12 SO 103/10, juris; Beschluss v. 30.7.2008, L 20 B 86/08 SO ER, juris; Beschluss v. 8.2.2006, L 17 U 175/05; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 17.2.2010, L 6 R 621/09, juris; ausdrücklich offen gelassen von LSG Bayern, Urteil v. 28.4.2010, L 1 R 232/10, juris; die Anwendung voraussetzend: LSG Bayern, Urteil v. 25.2.2010, L 14 R 911/08, juris). Dagegen ist ein Widerruf des Prozessvergleichs bei Vorliegen von Wiederaufnahmegründen gem. §§ 179, 180 SGG, §§ 578 ff. ZPO ebenso möglich wie die Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen nach §§ 116 ff. BGB (vgl. LSG NRW, Urteil v. 26.5.2010, L 12 SO 103/10, juris; LSG Bayern, Urteil v. 16.3.2011, L 10 AL 270/10, juris; Urteil v. .4.2010, L 10 AL 252/09, juris).

 

Rz. 7

Ein gerichtlicher Vergleich kann nur geschlossen werden, solange das Verfahren rechtshängig i. S. d. § 94 ist. Unerheblich ist, ob die Klage oder das Rechtsmittel zulässig ist. Ein Vergleich kann auch noch nach Verkündung des Urteils geschlossen werden, solange die Rechtsmittelfrist noch nicht abgelaufen und das Verfahren dementsprechend noch nicht rechtskräftig beendet ist.

 

Rz. 8

Der gerichtliche Vergleich kann vor dem Gericht in voller Besetzung oder auch vor dem Vorsitzenden oder dem beauftragten oder ersuchten Richter geschlossen werden. Eine falsche Besetzung hindert die Wirksamkeit nicht (BGHZ 35 S. 309).

 

Rz. 9

Der Vergleich kann auch über Gegenstände geschlossen werden, die weder in dem betreffenden noch in einem anderen Verfahren rechtshängig sind. Dies sollte sich aus dem Wortlaut der Vereinbarung eindeutig ergeben; ist insoweit keine klare Regelung getroffen worden, ist im Zweifel von einer Beschränkung der Vereinbarungen auf den anhängigen Streitgegenstand auszugehen (vgl. hierzu den Fall des LSG NRW, Urteil v. 24.1.2007, L 12 AL 61/06, zur (Nicht-)Berücksichtigung von Folgebescheiden zur Arbeitslosenhilfe). Im sozialgerichtlichen Verfahren können Vereinbarungen getroffen werden, über welche das Gericht nicht entscheiden dürfte, weil der Sozialrechtsweg nicht gegeben ist (vgl. Zeihe, § 101 Rn. 7b; Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 101 Rn. 5). Deshalb kann im Rahmen des Vergleichs auch eine Regelung über einen möglichen Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 GG, § 839 BGB, für den die Landgerichte zuständig wären, getroffen werden.

 

Rz. 10

Die Beteiligten müssen über den Gegenstand des Vergleichs verfügen können. Eine Behörde kann über den Gegenstand verfügen, wenn sie im Rahmen ihres Verwaltungshandelns, insbesondere durch den Erlass eines Verwaltungsakts, eine gleiche Regelung hätte treffen können. Maßgeblich ist dabei nicht, ob sie genauso hätte handeln dür...

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