Rz. 9

Nach § 103 Satz 1 HS 2 sind die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhalts heranzuziehen. Haben die Beteiligten nicht schon in vorbereitenden Schriftsätzen i. S. d. § 108 Erklärungen tatsächlicher Art abgeben, die geeignet sind, entsprechende Ermittlungen zu veranlassen, kann das Gericht sie nach Maßgabe von § 106 Abs. 1 dazu auffordern und ihnen nach § 106a eine Frist setzen. Innerhalb der mündlichen Verhandlung steht dem Vorsitzenden die Möglichkeit des § 112 Abs. 2 Satz 2 zur Verfügung, d. h. er fordert sie zur Vervollständigung ihres Tatsachenvortrags auf, soweit dieser erheblich ist.

Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht liegt nicht vor, wenn dem Tatsachengericht ein nicht bekannter Sachverhalt, der sich nach der Einlassung eines Beteiligten auf den geltend gemachten Anspruch auswirken kann, nicht von dem Beteiligten zumindest soweit geltend gemacht und spezifiziert worden ist, dass die rechtliche Relevanz erkennbar wurde und damit Anlass zu Ermittlungen bestand (BSG, Urteil v. 20.3.2007, B 2 U 9/06 R, UV-Recht Aktuell 2007 S. 1065 ff.).

Eine Zurückverweisungsmöglichkeit hinsichtlich "verspäteten" Vorbringens ist dem SGG lange Zeit unbekannt gewesen (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 10.9.2003, L 6 SB 97/03, Behindertenrecht 2004 S. 20 f.). Seit dem 1.4.2008 gilt insoweit die Vorschrift des § 106a.

Sachvorträge der Beteiligten, die sich in Spekulationen ergehen, kann das Gericht unbeachtet lassen. Das Gericht braucht nur tatsächlichen Behauptungen nachzugehen, nicht aber bloßen Vermutungen (vgl. LSG BW, Urteil v. 13.12.2006, L 3 AL 2271/04, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 20.5.2010, L 30 AL 245/07, juris). Hat das Gericht Zweifel, ob eine bestimmte Tatsache wirklich aus eigener Anschauung vorgetragen worden ist und nicht etwa spekulativ mit dem Ziel, einen als möglich erachteten Sachverhalt ausforschen zu lassen, so wird es unter Hinweis auf die sich aus § 202 SGG i. V. m. § 138 Abs. 1 ZPO ergebende Wahrheitspflicht Nachfrage bei dem Beteiligten halten.

 

Rz. 10

Das Nichtmitwirken an der Aufklärung des Sachverhalts kann erhebliche Folgen beweisrechtlicher Art für den betreffenden Beteiligten nach sich ziehen. Das Gericht ist zwar grundsätzlich weiterhin verpflichtet, alle Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, die sich ihm auch ohne Mitwirkung des Beteiligten eröffnen, darüber hinaus kann der Beteiligte jedoch nicht mehr rügen, das Gericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (so inzwischen auch BSG, Urteil v. 22.4.2009, B 3 KR 24/07 R, SozR 4-2500 § 109 Nr. 18). Das Gericht kann von bestimmten Tatsachen überhaupt nur durch den betreffenden Vortrag des Beteiligten Kenntnis erlangen. Darüber hinaus benötigt das Gericht oftmals Angaben etwa über Namen und Anschriften von in Frage kommenden Zeugen, die vernünftigerweise nur von dem Beteiligten zu erhalten sind. Werden Ermittlungen vereitelt, so ist das Gericht zudem befugt zu unterstellen, dass die Ermittlung für den betreffenden Beteiligten ein negatives Ergebnis erbracht hätte. Weigert sich etwa ein Kläger, eine Schweigepflichtentbindungserklärung für die ihn behandelnden Ärzte abzugeben, weil er sich von einem Sachverständigengutachten mehr verspricht, so kann das Gericht unterstellen, dass die behandelnden Ärzte Befunde mitgeteilt hätten, die das Klagebegehren gerade nicht gestützt hätten. Der Kläger hat somit nicht die Möglichkeit, mit dieser Weigerung das Gericht zu der – kostenträchtigen – Einholung eines Gutachtens zu zwingen.

Der zweite Senat des BSG stellt ähnliche Überlegungen für ein beweisvereitelndes Verhalten des Beklagten an. Er misst der Vorschrift des § 444 ZPO den allgemeinen Rechtsgedanken bei, dass derjenige, der durch schuldhaftes Handeln oder Unterlassen eine an sich mögliche Beweisführung vereitelt, sich ggf. so behandeln lassen müsse, als sei die Beweisführung gelungen (BSG, Beschluss v. 13.9.2005, B 2 U 365/04 B, juris; instruktiv auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 19.5.2011, L 10 KR 52/07, juris). Weiter noch geht der dritte Senat des BSG. Nach dessen Auffassung verkörpert § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I einen allgemeinen Rechtsgedanken. Dieser bestehe darin, dass bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten und dadurch bedingter erheblicher Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung die begehrte Leistung ohne weitere Ermittlungen versagt werden könne, soweit ihre Voraussetzungen nicht nachgewiesen seien (BSG, Urteil v. 22.4.2009, B 3 KR 24/07 R, SozR 4-2500 § 109 Nr. 18).

Das Gericht darf sich mit der Unterstellung jedoch nicht in Widerspruch zu bereits aktenkundigen Ermittlungsergebnissen setzen. Erforderlichenfalls muss letztlich doch anderweitig weiterermittelt werden. Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG gebieten im Übrigen, dem Beteiligten die genannten beweisrechtlichen Folgen anzudrohen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen (vgl. BSG, Beschluss v. 6.7.2006, B 9a SB 52/05 B, SozR 4-1500 § 160 Nr. 11; BSG, Urteil v. 18.2.2010, B 4 AS 5/09 R, info also 2010 S. 185).

Bei Nichtmitwirkung eines Beteiligten ...

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