1 Allgemeines
Rz. 1
§ 107 ist Ausfluss des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG (BSG, Urteil v. 13.5.1986, 4a RJ 15/85, HV-INFO 1987 S. 675 ff.). Die Gewährung rechtlichen Gehörs ist Voraussetzung einer richtigen Entscheidung. Sie ermöglicht den Verfahrensbeteiligten, die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss v. 12.1.2011, 1 BvR 2538/10, juris).
2 Rechtspraxis
Rz. 2
Die Vorschrift gilt für alle Instanzen und sowohl für die vor der mündlichen Verhandlung als auch für die in der mündlichen Verhandlung durchgeführte Beweisaufnahme. Für die Anwendung in einem darüber hinausgehenden Bereich gibt der Gesetzeswortlaut keinen Anhalt. Der Auffassung, die Vorschrift gelte etwa auch für die bloße Einholung von Auskünften i. S. d. § 106 (so Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 107 Rn. 2 m. w. N.), ist entgegenzuhalten, dass insoweit eine unmittelbare Anwendung des § 62 ausreichend ist.
Rz. 3
§ 107 gilt nur für die gerichtliche Beweisaufnahme. Ist im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren Beweis erhoben worden und beabsichtigt das Gericht, die Ergebnisse dieser Beweisaufnahme zu verwerten, so gebietet es allerdings der Anspruch auf rechtliches Gehör ungeachtet der Nichtanwendbarkeit des § 107, die übrigen Beteiligten von dieser Beweisaufnahme in Kenntnis zu setzen. Die Mitteilung, die Akte des Sozialleistungsträgers sei beigezogen, genügt diesem Zwecke dann nicht. Das Gericht hat vielmehr gezielt darauf hinzuweisen, dass der Inhalt der betreffenden Beweisaufnahme für die gerichtliche Entscheidung bedeutsam werden könnte. Eine Verpflichtung zur Übermittlung der betreffenden Unterlagen aus der Verwaltungsakte besteht wiederum nicht. Die Beteiligten haben die Möglichkeit, Akteneinsicht zu nehmen. Eine Entscheidung des Gerichts ohne entsprechenden vorherigen Hinweis verstößt nicht nur gegen § 62, sondern auch gegen § 128 Abs. 2. Das Gericht darf sein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (vgl. auch BSG, Urteil v. 30.1.1969, 8 RV 421/67, juris).
Rz. 4
§ 107 lässt dem Gericht die Wahl, den Beteiligten entweder eine Abschrift der Niederschrift der gerichtlichen Beweisaufnahme oder deren Inhalt mitzuteilen. Praxisüblich dürfte die erste Alternative sein. Sie begegnet auch dem Einwand, das Ergebnis der Beweisaufnahme sei verfälscht wiedergegeben worden, und der Beteiligte sei im Zweifel besser in der Lage, die Beweisaufnahme zu würdigen und hierzu vorzutragen. In einigen Fällen kann es jedoch sinnvoller sein, eine zusammenfassende Mitteilung zu unterbreiten und darauf zu verweisen, von der Beweisaufnahme im Ganzen mittels Akteneinsichtnahme Kenntnis zu nehmen. Dies gilt etwa, wenn die Unterlagen sehr umfangreich sind und deren Inhalt möglicherweise nur zum Teil entscheidungserheblich ist. Es besteht insbesondere auch keine Verpflichtung des Gerichts, den (übrigen) Beteiligten eine vollständige Ablichtung der beigezogenen Verwaltungsakten und sonstigen Akten zur Verfügung zu stellen.
Rz. 5
Über den Zeitpunkt der Mitteilung trifft das Gesetz keine Aussage. Es muss nur gewährleistet sein, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör von den Beteiligten effektiv wahrgenommen werden kann. Das Ergebnis der Beweisaufnahme muss so zeitig mitgeteilt bzw. die Abschrift der Niederschrift so zeitig zugeleitet werden, dass die Beteiligten eine Stellungnahme hierzu vorbereiten und rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung abgeben können. Werden sodann in der mündlichen Verhandlung besondere Umstände vorgetragen, nach denen die bis zum Termin gesetzte und im Allgemeinen auch ausreichend lange Frist zur Stellungnahme nicht eingehalten werden konnte, so muss ggf. vertagt werden, damit die Beteiligten sich noch zum Ergebnis der Beweisaufnahme äußern können (BSG, Urteil v. 8.9.1970, 9 RV 158/70, SozEntsch BSG 1/4 § 62 Nr. 28). Das Gericht hat im Einzelfall zu sichten, um welches Beweisergebnis es sich handelt, welcher Zeitraum regelmäßig erforderlich ist, ggf. – mit fachkundiger Hilfe – eine Stellungnahme abzugeben, und ob Umstände persönlicher Art vorliegen, die einen längeren Zeitraum als geboten erscheinen lassen.
Da § 107 Ausdruck des Anspruchs der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör ist, genügt die Aushändigung der zum Zwecke der Beweiserhebung eingeholten schriftlichen Auskünfte und Gutachten an den nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten erst in der mündlichen Verhandlung nur ausnahmsweise und nur dann, wenn sich der Beteiligte hieraus ein klares Bild machen und sofort sachdienlich Stellung nehmen kann. Das kann bei medizinischen Äußerungen von zu Sachverständigen bestellten Fachärzten in aller Regel nicht unterstellt werden (BSG, Urteil v. 13.5.1986, 4a RJ 15/85, HV-INFO 1987 S. 675 ff.). Es ist Sache des Gerichts, die mündliche Verhandlung so vorzubereiten – etwa durch rechtzeitige Einholung und Übermittlung von Sachverständigengutachten –, dass die Streitsache ohne Vertagung verfahrensfehlerfrei erledigt werden kann (BSG, Ur...