1 Allgemeines
Rz. 1
Die Vorschrift ist mit Wirkung v. 1.4.2008 durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) eingeführt worden. Sie sieht in Ergänzung des § 114 eine Aussetzungsmöglichkeit bei Betreibung eines oder mehrerer Musterverfahren vor. Das BVerfG hat bereits im Jahre 1980 entschieden, dass die Durchführung von Musterverfahren grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig sei (BVerfG, Beschluss v. 27.3.1980, 2 BvR 316/80, BVerfGE 54 S. 39 ff.).
Rz. 2
Angelehnt ist § 114a an die Vorschrift des § 93a VwGO, mit der er sogar in seiner Formulierung weitgehend identisch ist. In der amtlichen Begründung ihres Gesetzentwurfs weist auch die Bundesregierung auf die Parallelität der Vorschriften hin und erklärt, die Schaffung des § 114a diene der Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen. Diesem Zweck untergeordnet scheint der in der Begründung selbst eingeräumte Umstand zu sein, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift sich mangels Einbeziehung der sog. unechten Massenverfahren (siehe unter Rn. 4) als begrenzt erweisen dürfte (BT-Drs. 16/7716).
2 Rechtspraxis
2.1 Aussetzung bei Musterverfahren
Rz. 3
Absatz 1 ermächtigt das Gericht, eines oder mehrere Verfahren als sog. Musterverfahren vorab durchzuführen, wenn die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme Gegenstand von mehr als 20 Verfahren ist. Indes müssen diese Verfahren im Gegensatz zum Tatbestand des § 93a Abs. 1 VwGO an dem betreffenden Gericht selbst anhängig sein. Es genügt nicht eine Anhängigkeit verteilt auf verschiedene Gerichte.
Rz. 4
Es muss sich um ein und dieselbe behördliche Maßnahme handeln. Tatbestandlich nicht erfasst wird die Situation, dass von verschiedenen Klägern Verwaltungsakte angefochten werden, die nur im Wesentlichen gleichartig sind. In solchen sog. unechten Massenverfahren verbleibt es bei dem Grundsatz, dass die Aussetzung eines Rechtsstreits nicht bereits deshalb möglich ist, weil die in dem Rechtsstreit zu entscheidende Rechtsfrage auch in einem zeitgleich anhängigen Verfahren anderer Parteien zu entscheiden ist. In Betracht zu ziehen ist in solchen Fällen allein die – antragsgebundene – Anordnung des Ruhens des Verfahrens (vgl. Kommentierung in Rz. 7 zu § 114 und die dortigen Nachweise aus der Rspr.).
Rz. 5
Das Gericht hat die Prüfung anzustellen, ob sich eines der bei ihm anhängigen Verfahren überhaupt zur Durchführung als Musterverfahren eignet. Ist kein geeignetes Verfahren anhängig, so hat eine Aussetzung anderer Verfahren zu unterbleiben.
Auch wenn ein geeignetes Verfahren vorhanden ist, ist das Gericht keineswegs verpflichtet, die übrigen Verfahren auszusetzen. Die Aussetzung steht dem Gericht vielmehr in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens anheim. Entscheidet sich das Gericht für die Aussetzung, so hat es nach Maßgabe von Abs. 1 Satz 2 zuvor rechtliches Gehör zu gewähren. Der Aussetzungsbeschluss ist sodann gemäß Abs. 1 Satz 3 unanfechtbar.
2.2 Fortführung der ausgesetzten Verfahren
Rz. 6
Absatz 2 Satz 1 ermächtigt das Gericht, über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluss zu entscheiden, wenn über das oder die Musterverfahren rechtskräftig entschieden ist. Zuvor hat das Gericht zu prüfen, ob die ausgesetzten Verfahren nicht etwa wesentliche Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art gegenüber dem bzw. den Musterverfahren aufweisen und ob der Sachverhalt geklärt erscheint. Diese Prüfung wird das Gericht vernünftigerweise indes bereits innerhalb der Ermessensentscheidung nach Abs. 1 Satz 1 vorgenommen haben. Erscheint der Sachverhalt noch ungeklärt oder sind wesentliche Unterschiede in den Sachverhalten festzustellen, die den Verfahren zugrunde liegen, wird das Gericht sich bereits gegen eine Durchführung von Musterverfahren überhaupt entschieden haben. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass sich Besonderheiten tatsächlich erst im Nachhinein zeigen.
Von wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art ist regelmäßig dann auszugehen, wenn in den ausgesetzten Verfahren neue, in den Musterverfahren noch nicht angesprochene Rechts- oder Tatsachenfragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung das in dem/den entschiedenen Verfahren gewonnene Ergebnis in Zweifel ziehen oder jedenfalls seine Übertragbarkeit als problematisch erscheinen lassen könnte (BVerwG, Teilbeschluss v. 1.11.2007, 4 A 1009/07, 4 A 1009/07 [4 A 1014/04, 4 A 1010/05, 4 A 1023/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 18.4.2007, 4 A 1003/07, 4 A 1003/07 [4 A 1022/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 19.12.2006, 4 A 1053/06, 4 A 1053/06 [4 A 1041/04)], Buchholz 310 § 93a VwGO Nr. 1).
Rz. 7
Das Gericht muss einstimmig zu der Einschätzung gelangen, dass der Sachverhalt geklärt ist und wesentliche Besonderheiten nicht vorliegen. Ist die erforderliche Einstimmigkeit erzielt worden, sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss anzuhören. Die Anhörungspflicht verfolgt im Wesentlichen den Zweck, den Beteiligten die Möglichkeit zu verschaffen, auf tatsächlich oder vermeintlich vorhandene Besonderheiten ihres Falls hinzuweisen und Bedenken gegen die in dem/den Musterverfa...