Rz. 19
Eng verbunden mit der Frage nach dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens eines ohne mündliche Verhandlung gefassten Urteils ist das Problem, bis wann beim Gericht eingehende Schriftsätze vom Gericht noch zu berücksichtigen sind. Die h. M. setzt diesen Zeitpunkt mit dem in Rz. 17 genannten gleich (vgl. BVerfGE 60, 313, 318; BVerfGE 62, 347, 353; BSG, SozR 3-1750 § 551 Nr. 7; BSG, Urteil v. 23.11.1971, 8 RV 161/ 70;BSG, Beschluss v. 31.3.2004, B 4 RA 203/03 B, Rz. 8 zu § 153 Abs. 4; BVerwGE 91, 242, 243; BVerwGE 58, 146; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 124 Rz. 4b und § 133 Rz. 2a; Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider/Bier, § 116 Rz. 10; Krasney/Udsching, VII Rz. 211 für Urteile nach § 124 Abs. 2, nicht jedoch für Urteile nach Lage der Akten gemäß § 126, vgl. auch unten Rz. 21).
Nach a. A. ist zwischen dem Wirksamwerden der Entscheidung und der Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zu berücksichtigen, zu differenzieren. Im schriftlichen Verfahren entspreche dem Schluss der mündlichen Verhandlung der Beratungstermin. Was bis dahin nicht bekannt gewesen sei, könne nicht mehr Gegenstand der Beratung sein. Das rechtliche Gehör werde durch dieses Vorgehen nicht verletzt, wenn der Beratungstermin grundsätzlich erst anberaumt werde, wenn die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zum Sachvortrag hatten (vgl. Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 101 Rz. 25; kritisch dazu Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 101 Rz. 44). Ähnlich kommt auch Behn nach Auswertung der Entscheidungen des BVerfG zu dem Ergebnis, dass unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs bei Entscheidungen, die im schriftlichen Verfahren ergehen, nur solches Vorbringen zu berücksichtigen sei, welches vor Ablauf einer angemessenen Begründungs- oder Äußerungsfrist, die auch vom Gericht ausdrücklich bestimmt worden sein könne, und bis zur - dokumentierten - Urteilsfertigung, Gerichtsbescheidung oder Beschlussfassung beim Gericht eingegangen ist. Das Zustellungs- bzw. Bekanntgabeverfahren gebiete keine Gewährung von rechtlichem Gehör mehr. Es stelle keinen Verstoß gegen Art. 103 GG, § 62 dar, wenn nach der objektiv gerichtsintern feststellbaren Urteilsfällung bis zur Absendung der Entscheidung durch die Geschäftsstelle eingegangenes schriftsätzliches Vorbringen nicht mehr berücksichtigt geblieben ist (vgl. Behn, Die Sozialversicherung 1993, 29, 43). Krasney/Udsching (VII Rz. 211) und GK-Bley (§ 126 Anm. 4d) differenzieren zwischen Urteilen nach § 124 Abs. 2 und solchen nach § 126: Bei Urteilen nach Lage der Akten (§ 126) sei die im Termin bestehende Prozesslage maßgebend.
Rz. 20
Trotz der für das Gericht problematischen Konsequenzen dürfte die h. M. der Rechtslage entsprechen. So beruht etwa die Regelung des § 134, der für Entscheidungen, die nur zuzustellen (nicht zu verkünden) sind, auf die Festlegung einer bestimmten Frist für die Übergabe verzichtet, darauf, dass das Gericht eingehende Schriftsätze bis zur Herausgabe der Entscheidung zur Post zu berücksichtigen hat, und schon deshalb gezwungen sein kann, erneut in die Beratung einzutreten und das Ergebnis früherer Beratungen zu ändern (vgl. BSG, SozR 3-1750 § 551 Nr. 7). Zur Präklusion verspäteten Vorbringens vgl. § 106a Abs. 2.
Konsequenz daraus ist, dass das Gericht, wenn ein Schriftsatz eines Beteiligten vor der Herausgabe des Urteils zum Zwecke der Zustellung (bzw. vor Kundgabe des Tenors an einen Beteiligten) eingeht, diesen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs berücksichtigen muss und gezwungen sein kann, erneut in die Beratung einzutreten. Es stellen sich dann aber die Fragen, wer berechtigt ist zu prüfen, ob der Schriftsatz etwas Neues enthält und entscheidungserheblich ist, sowie ob und in welcher Besetzung neu zu beraten ist. Folgerichtig wäre es, mit Zeihe (bis zu 50. Lieferung 2010, § 124 Rz. 9) zu fordern, dass in derselben Besetzung wie bei der Urteilsfällung über die Erheblichkeit des neuen Vorbringens zu beraten ist, um schon die Denkmöglichkeit einer Manipulation zu vermeiden (a. A.: LSG Rheinland-Pfalz, SGb 1996, 487; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 124 Rz. 4). Dann müsste aber bei jedem Posteingang nach der Beschlussfassung der gesamte Spruchkörper über die Erheblichkeit des "neuen" Vorbringens beraten, was kaum praktikabel wäre. Es sprechen deshalb gute Gründe dafür, dass ausreichen muss, wenn der/die Berufsrichter die Erheblichkeit des Inhalts des neuen Schriftsatzes prüfen und, wenn diese bejaht wird, dies in einem Vermerk niedergelegt und der gesamte Vorgang bei der erforderlichen neuen Beratung offengelegt wird (vgl. auch Hauck, in: Hennig, SGG, § 125 Rz. 61).