Rz. 13
Ein allgemeiner Erfahrungssatz ist verletzt, wenn das Gericht einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt (BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 4; BSG, SozR 1500 § 103 Nr. 25) oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz angewendet hat (vgl. BSGE 36, 35, 36; BSG, SozR Nr. 72 und 89 zu § 128 SGG; BSG, SozR 1500 § 103 Nr. 25; BSG, SozR 4-2500 § 87 Nr. 12: nicht zugleich ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht; vgl. aber BSG, Breithaupt 2001, 791, 783, wonach das Tatsachengericht gegen § 128 und § 103 verstößt, wenn es einen vermeintlichen allgemeinen Erfahrungssatz seiner Beweiswürdigung zugrunde legt).
Generell handelt es sich bei allgemeinen Erfahrungssätzen um Schlüsse, die man aufgrund von Erfahrung, darunter auch fachlicher Erfahrung, aus einer Reihe gleichartiger Tatsachen zieht und die daher entweder der allgemeinen Lebenserfahrung oder der besonderen Fachkunde angehören. Sie sind zwar im engeren Sinne keine Rechtssätze, weil ihnen die normative Verbindlichkeit fehlt und ihre Richtigkeit als Erfahrungssätze davon abhängt, dass weiterhin die entsprechenden Erfahrungen gemacht werden (BSG, Urteil v. 2.5.2001, 2 B 24/00 R; BSG, Breithaupt 2001, 783). Gleichwohl helfen sie wie Rechtssätze, die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Rechtsprechung zu sichern. Insbesondere ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass Gerichte im Beweisverfahren eine Einzelfallprüfung aufgrund der von ihnen angewendeten allgemeinen Erfahrungssätze für entbehrlich halten (BVerfG, NJW 1995, 125; BSG, Breithaupt 2001, 783). Ob im Einzelfall ein entsprechender allgemeiner Erfahrungssatz besteht, ist allerdings eine Rechtsfrage (Kopp/Schenke, VwGO, § 137 Rz. 19 m. w. N.), die im Revisionsverfahren nachprüfbar ist (vgl. BSGE 10, 46, 49; BSGE 18, 179, 180; BSGE 36, 35, 36; BSG, SozR 2200 § 581 Nr. 27; BSGE 82, 212, 216; BSG, Breithaupt 2001, 783). Den Inhalt medizinischer Erfahrungssätze hatte das BSG dagegen bislang im Unfallrecht als für das Revisionsgericht nicht überprüfbar angesehen (BSG, SozR 3-2200 § 539 Nr. 19 m. w. N.; BSG, Urteil v. 18.3.2003, B 2 U 13/02 R). Mit Urteil v. 27.6.2006 (B 2 U 5/05 R) ist es hiervon abgerückt. Bei der Ermittlung, was Stand der medizinischen Kenntnisse über Ursachen- und Wirkungszusammenhänge bei der Entstehung von Berufskrankheiten ist, gehe es zwar um Tatsachen, vorwiegend in Gestalt von medizinischen Erfahrungssätzen. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Krankheitsverursachung durch schädigende Einwirkungen am Arbeitsplatz seien aber keine Tatsachen des Einzelfalls, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen Berufskrankheiten-Fälle gleichermaßen von Bedeutung seien. Ihre Ermittlung diene auch nicht nur der Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt. Vielmehr gehe es um die Feststellung sog. Rechtstatsachen, die für die Auslegung, d. h. für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm (in diesem Fall der BK Nr. 1317 Anl. BKV) benötigt werden. Solche Rechtstatsachen (vgl. dazu BSG, SozR 3-2500 § 34 Nr. 4, 19; BSG, SozR 3-2500 § 18 Nr. 4, 16 f.) unterlägen nicht der in § 163 angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen (vgl. auch BSG, Urteil v. 2.4.2009, B 2 U 9/08 R, Rz. 15).
In der gesetzlichen Unfallversicherung etwa haben sich im Laufe der Zeit bei einer Vielzahl von Unfallfolgen und Berufskrankheiten für die Schätzung der MdE Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Anhaltspunkte für die MdE-Einschätzung im Einzelfall. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte bilden i. d. R. die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, und gewährleisten, dass alle Betroffenen bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden. Den Empfehlungen kommt damit ebenso wie den MdE-Tabellen nicht der Rechtscharakter einer gesetzlichen Norm zu, sie stellen vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten allgemeine Erfahrungssätze im oben genannten Sinne dar (BSGE 82, 212, 215; BSG, Beschluss v. 29.12.2022, B 2 U 89/22 B), um den unbestimmten Rechtsbegriff der MdE auszufüllen (BSG, Urteil v. 2.5.2001, 2 B 24/00 R). Die Merkblätter zu den einzelnen Berufskrankheiten sind keine antizipierten Sachverständigengutachten (vgl. BSG, SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2401 Nr. 1). Als antizipierte Sachverständigengutachten gelten die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht Teil II SGB XI)" (vgl. z. B. BSGE 72, 285; BSGE 75, 176), die durch die am 1.1.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung weitgehend ersetzt worden sind. Auch technische Regelwerke können die Bedeutung von allgemeinen Erfahrungssätzen und antizipierten Sachverständigengutachten haben (vgl. zu den Voraussetzungen BVerwG, Beschluss v. 15.1.2008, B9 7/0...