2.2.1 Überblick
Rz. 18
Durch die zum 1.4.2008 eingefügte Neuregelung kann das Gericht unter den in Abs. 4 genannten Voraussetzungen im Urteil auf die Darstellung von Tatbestand und Entscheidungsgründen verzichten, wenn das Urteil in dem Termin verkündet wurde, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde. Nach der Gesetzesbegründung (BR-Drs. 820/07 S. 27) wird eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit bezweckt, wobei die Norm § 313a ZPO nachempfunden ist. Anders als in § 313a ZPO muss jedoch auch der Beigeladene den Verzicht erklären. Eine Anwendung von § 313a ZPO über § 202 scheidet aus, da § 136 Abs. 4 eine abschließende Sonderregelung enthält (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 136 Rz. 9).
Rz. 19
Die Norm wird insbesondere in der ersten Instanz nur selten angewandt. Denn in den Fällen, in denen das Gericht in der Lage ist, die Beteiligten im Rechtsgespräch zu überzeugen, genügen weiterhin die prozessualen Möglichkeiten der Rücknahme des Rechtsmittels, des Vergleichs und des Anerkenntnisses. Dort aber, wo diese Überzeugung nicht gelungen ist, werden die Beteiligten, namentlich derjenige, der nach den Hinweisen der Kammer mit seinem Unterliegen rechnen muss, kaum Veranlassung sehen, auf Rechtsmittel zu verzichten (mit Recht kritisch deshalb auch die Stellungnahme Nr. 32/07 vom 27.6.2007 des Deutschen Anwaltsvereins durch den Ausschuss Sozialrecht zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer Gesetze). In der Berufungsinstanz ergibt sich mehr Raum für einen Rechtsmittelverzicht und ein Urteil ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe, etwa wenn ein Beteiligter zwar nicht das Ergebnis der Beweisaufnahme gutheißen will, sich aber nicht der Erkenntnis entziehen kann, dass eine weitere Tatsacheninstanz nicht gegeben ist. Einem Prozessbevollmächtigten, dessen Mandant in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend gewesen ist, wird zudem ein in oder nach der mündlichen Verhandlung erklärter Rechtsmittelverzicht oft leichter fallen als eine Berufungsrücknahme.
2.2.2 Anwendbarkeit/Voraussetzungen
2.2.2.1 Anwendbarkeit
Rz. 20
Abs. 4 enthält keine Übergangsregelung und ist ab dem 1.4.2008 anwendbar. Die Regelung gilt für alle Instanzen. Da gegen Urteile des BSG ohnehin kein Rechtsmittel gegeben ist, hat der gegenüber dem BSG erklärte Rechtsmittelverzicht lediglich die Bedeutung eines Verzichts auf Tatbestand und Entscheidungsgründe im Urteil.
2.2.2.2 Voraussetzungen
2.2.2.2.1 "Stuhlurteil"
Rz. 21
Ein Urteil nach Abs. 4 kommt nur dann in Betracht, wenn das Gericht sein Urteil noch in demselben Termin verkündet hat, in dem es die mündliche Verhandlung geschlossen hat (sog. "Stuhlurteil" i. S. d. § 310 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 ZPO). Erfasst werden auch Fälle der "Verkündung der Entscheidung am Schluss der Sitzung" (vgl. z. B. Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, ZPO, § 313a Rz. 13).
2.2.2.2.2 Rechtsmittelverzicht
Rz. 22
Der Verzicht auf Rechtsmittel ist eine auslegungsfähige Prozesshandlung, die nicht widerrufbar und bedingungsfeindlich ist. Innerprozessuale Bedingungen, z. B. Verzicht für den Fall des Obsiegens, werden im Rahmen des § 313a Abs. 2 ZPO aber zugelassen (vgl. z. B. Saenger, in: Hk-ZPO, § 313a Rn. 8). Ein Schriftformerfordernis besteht nicht. Wenn der Rechtsmittelverzicht in der mündlichen Verhandlung erklärt wird, ist er zu Protokoll zu nehmen. Für die Auslegung einer Erklärung als Rechtsmittelverzicht ist Zurückhaltung geboten. Hier gelten wegen der Unwiderruflichkeit und Unanfechtbarkeit einer solchen Erklärung strenge Anforderungen (vgl. BGH, Urteil v. 28.3.1989, VI ZR 246/88; BGH, Beschluss v. 7.11.1989, VI ZB 25/89; BGH, NJW 1994, 942; BGH, NJW 1974, 1248, 1249). Zwar ist nicht erforderlich, dass ausdrücklich von einem Verzicht die Rede ist. Jedoch ist unabhängig von der Wortwahl ein Rechtsmittelverzicht nur dann anzunehmen, wenn in der Erklärung klar und eindeutig der Wille zum Ausdruck gebracht wird, die Entscheidung endgültig hinzunehmen und nicht anfechten zu wollen (vgl. BGH, Beschluss v. 5.9.2006, VI ZR 65/05; BGH, Urteil v. 12.3.2002, VI ZR 379/01; BGH, VersR 1989, 602 f.; BGH, NJW 1985, 2335).
Abs. 4 verlangt, dass "Kläger, Beklagter und sonstige rechtsmittelberechtigte Beteiligte" auf Rechtsmittel verzichten. Nicht erforderlich ist, dass ein vollständig obsiegender Beteiligter auf Rechtsmittel verzichten muss (str., ebenso: BayLSG, Urteil v. 26.11.2014, L 11 AS 243/11, Rz. 3; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 136 Rz. 9; Hauck, in: Hennig, SGG, § 136 Rz. 105; Wolff-Dellen, in: Fichte/Jüttner, SGG, § 136 Rz. 24; Harks, in: BeckOGK-SGG, § 136 Rz. 38; Schütz, in: jurisPK-SGG, § 136 Rz. 54; a. A. noch die Vorauflage, Humpert, in: Jansen, 4. Aufl., SGG, § 136 Rz. 22; PSW, SGG, § 136 Rz. 240). Hierfür spricht schon der Wortlaut. Da ein vollständig obsiegender Beteiligter schon mangels Beschwer und fehlendem Rechtsschutzbedürfnis jedenfalls zulässigerweise kein Rechtsmittel einlegen kann, kann er auch nicht auf dieses verzichten. Zudem ergibt sich aus der Formulierung "und sonstige rechtsmittelberechtigte Beteiligte", dass es auch bei Kläger und Beklagten über de...