Rz. 5
Begriff
Die formelle, äußere Rechtskraft bedeutet, dass das Urteil für dasselbe Verfahren unabänderlich ist (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 322 Rz. 1). Sie wird in dem gemäß § 202 SGG entsprechend anwendbaren § 705 ZPO geregelt. § 705 ZPO ist mit dem Anhörungsrügengesetz v. 9.12.2004 (BGBl. I S. 3220) zum 1.1.2005 geändert worden, ferner ist mit § 178a SGG eine Anhörungsrüge nach dem Vorbild des § 321a ZPO geschaffen worden, um den Beschluss des BVerfG v. 30.4.2003 (1 PBvU 1/02) umzusetzen, wonach das Rechtsstaatsprinzip i. V. m. dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit fachgerichtlicher Abhilfe für den Fall erfordert, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Nach dem Anhörungsrügengesetz tritt die (formelle) Rechtskraft der Urteile vor Ablauf der für die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels oder des zulässigen Einspruchs bestimmten Frist nicht ein. Der Eintritt der Rechtskraft wird durch rechtzeitige Einlegung des Rechtsmittels oder des Einspruchs gehemmt (§ 705 Satz 1 und 2 ZPO). Rechtsmittel in diesem Sinne sind nur die ordentlichen. Wiedereinsetzungsantrag (§ 67), Wiederaufnahmeklage (§ 179) und Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) sind außerordentliche Rechtsbehelfe, sie schieben die Rechtskraft nicht hinaus. Durch diese kann jedoch bei Erfolg des außerordentlichen Rechtsbehelfs die Rechtskraft nachträglich und rückwirkend durchbrochen werden (vgl. Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 141 Rz. 53). Außerordentlicher Rechtsbehelf ist auch die Anhörungsrüge nach § 178a. Denn anders als der frühere § 321a ZPO hindert die Anhörungsrüge den Eintritt der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht, also hat keine Rechtskraft hemmende Wirkung, sondern ist Rechtskraft durchbrechender Rechtsbehelf. Weil es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, muss über die Anhörungsrüge in der Rechtsmittelbelehrung nicht belehrt werden (vgl. Frehse, in: Jansen, SGG, § 178a Rz. 5). Von der Frage der formellen Rechtskraft eines Urteils ist die seiner Vollstreckbarkeit zu trennen, denn schon vor Eintritt der Rechtskraft eines Urteils kommt seine vorläufige Vollstreckung in Betracht (§ 199, § 198 Abs. 2), namentlich, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Rz. 6
Zeitpunkt
Die formelle Rechtskraft tritt ein:
- mit dem Erlass der Entscheidung (§§ 132, 133): wenn gegen das Urteil ein Rechtsmittel überhaupt nicht gegeben ist (soweit dennoch ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, hat dies keinen Suspensiveffekt: vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 2a), wie bei Urteilen des BSG oder Beschlüssen des LSG (§ 177), nicht jedoch bei Beschlüssen des LSG nach § 153 Abs. 4 oder § 158, vgl. § 153 Abs. 4 Satz 3, § 158 Satz 3;
- mit Ablauf der Rechtsmittelfrist: wenn kein Rechtsmittel (auch Nichtzulassungsbeschwerde) eingelegt worden ist (nach h. M., noch nicht, wenn das statthafte Rechtsmittel vor Ablauf der Rechtsmittel zurückgenommen wird, da das Rechtsmittel noch erneut eingelegt werden könne, vgl. z. B. Redeker/von Oertzen, VwGO, § 121 Rz. 2; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 10; Kopp/Schenke, VwGO, § 126 Rz. 2; Stöber, in: Zöller, ZPO, § 705 Rz. 10; a. A. Zeihe, SGG, vor § 141 Anm. B I, die Rücknahme des Rechtsmittels bewirke den Verlust des Rechtsmittels; ebenso Schlegel, in: Hennig, SGG, § 141 Rn. 12 m. w. N. und Schütz, in: Schlegel/Voelzke, SGG, § 141 Rz. 13);
- mit Rücknahme des statthaften Rechtsmittels nach Ablauf der Rechtsmittelfrist (ex nunc, vgl. Stöber, in: Zöller, ZPO, § 705 Rz. 10; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 121 Rz. 2);
- mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Verwerfung oder Zurückweisung des statthaften und fristgerechten Rechtsmittels (vgl. GemS-OGB, Beschluss v. 24.10.1983, GmS-OGB 1/83, Rz. 13). Maßgeblicher Zeitpunkt bei Nichtzulassungsbeschwerden zurückweisenden Beschlüssen des BSG (§ 160a) ist der Zeitpunkt der Herausgabe der Entscheidung aus dem Gericht an die Post (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 160a Rz. 23; Zeihe, SGG, vor § 141 Anm. 1 B I);
- mit wirksamem Rechtsmittelverzicht aller Beteiligten gegenüber dem Gericht (vgl. BSG, Beschluss v. 11.10.1991, 7 RAr 24/89).
Rz. 7
Teilrechtskraft
Die Hemmungswirkung des § 705 Satz 2 ZPO erfasst grundsätzlich das ganze Urteil, nicht bloß den Teil, der in der Rechtsmittelschrift oder in der Begründungsschrift als angefochten bezeichnet ist, weil bei einem statthaften Rechtsmittel eine Erweiterung der Rechtsmittelanträge bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zulässig ist (BGH, NJW 1989, 170; vgl. BGHZ 7, 143, 144 f.; vgl. BGH, LM § 318 ZPO Nr. 2; BGH, NJW 1958, 343; BSG, Beschluss v. 11.10.1991, 7 RAr 24/89, nachgehend BVerfG, Beschluss v. 29.11.1991, 1 BvR 1665/91; BSG, Beschluss v. 30.3.2020, B 9 SB 59/19 B, Rz. 8; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 705 Rz. 9). Ein nur teilweise mit einem Rechtsmittel angefochtenes Urteil kann daher nur dann teilweise rechtskr...