1 Allgemeines
Rz. 1
§ 154 i. d. F. des Art. 8 Nr. 7 ist nach Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993 (BGBl. I S. 50) zum 1.3.1993 in Kraft getreten. Hier war geregelt, dass Berufung und Beschwerde nach § 144 SGG in den Fällen des § 97 Abs. 1 SGG und bei der Rückforderung von Beiträgen aufschiebende Wirkung haben. Die aufschiebende Wirkung der Berufung ist wegen der grundsätzlichen Vollstreckbarkeit der sozialgerichtlichen Urteile (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG) erforderlich. Durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144 ff.) ist § 154 Abs. 1 dahin geändert worden, dass die Berufung und Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung haben, soweit die Klage nach § 86a SGG Aufschub bewirkt. Hierbei handelt es sich um eine Folgeänderung zur Neuregelung des einstweiligen Rechtsschutzes in § 86a Abs. 1 SGG, nämlich der Einführung des Grundsatzes der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage. Hierdurch soll die Kongruenz der aufschiebenden Wirkung im Klage- und Rechtsmittelverfahren sichergestellt werden (Gesetzesbegründung der Bundesregierung BT-Drucks. 14/5943 S. 27). Eine Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG kennt das SGG nicht. Stattdessen muss es jeweils "§ 145" heißen (hierzu Zeihe, SGG, 11/2010, § 154 Rn. 1b). Wenn die Berufung nach § 144 Abs. 1 SGG beschränkt ist, soll die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 dieselbe Wirkung wie die Einlegung der Berufung haben. Bemerkenswert bleibt dabei, dass der Gesetzgeber das Fehlzitat "§ 144" weder anlässlich dieser Neuregelung noch nachfolgend korrigiert hat.
Rz. 2
Redaktionell hätte zudem § 154 Abs. 2 durch das 6. SGGÄndG überarbeitet werden müssen. In einer Vielzahl von Vorschriften hat der Gesetzgeber den antiquierten Begriff "Kriegsopferversorgung" durch den zutreffenderen und umfassenderen Begriff "soziales Entschädigungsrecht" ersetzt (z. B. § 10 Abs. 1, § 12 Abs. 4, § 13 Abs. 6, § 34, § 51 Abs. 1 Nr. 6, § 71 Abs. 5, § 75 Abs. 1 Satz 2, § 86 Abs. 2 Nr. 2, § 168 SGG). In § 154 Abs. 2 hat er den Änderungsbedarf übersehen.
2 Rechtspraxis
2.1 Regelung des Abs. 1
2.1.1 Aufschiebende Wirkung
Rz. 3
Als Grundregel bestimmt § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben. Folgerichtig regelt Abs. 1, dass insoweit auch Berufung und Beschwerde aufschiebende Wirkung haben. Gemäß § 154 Abs. 1 hat die Berufung aufschiebende Wirkung, soweit die Klage nach § 86a SGG Aufschub bewirkt. Der Anwendungsbereich des § 154 Abs. 1 ist auf Anfechtungsklagen beschränkt (BayLSG, Beschluss v. 16.12.2004, L 18 SB 132/04 ER, juris; Knecht, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 154 Rn. 5); diese haben keinen vollstreckungsfähigen Inhalt, entfalten ihre Gestaltungswirkung vielmehr ohne Vollstreckung aus sich hieraus. Demzufolge ist die Vorschrift dahin zu interpretieren, dass sie nicht nur die eigentliche Vollstreckung, sondern jede Verwirklichung des Inhalts der erstinstanzlichen Entscheidung betrifft (Bernsdorff, in: Hennig, SGG, 5/1997, § 154 Rn. 31; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 154 Rn. 2; Knecht, a. a. O.).
Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG) kann durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) oder dadurch beseitigt sein, dass die aufschiebende Wirkung durch Gesetz ausgeschlossen ist (z. B. § 39 Nr. 1 SGB II).
Rz. 4
Sind die Voraussetzungen des § 154 Abs. 1 gegeben, tritt die aufschiebende Wirkung als notwendige gesetzliche Folge ein (Bernsdorff, in: Hennig, SGG, 5/1997, § 154 Rn. 5). Die aufschiebende Wirkung beginnt, wenn und soweit die Klage Aufschub bewirkt (§ 86a SGG) mit der Einlegung der Berufung oder der Nichtzulassungsbeschwerde, bezogen ex tunc auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts (vgl. § 86a Rn. 10). Grundsätzlich unerheblich ist, ob die Berufung begründet ist. Anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Berufung offensichtlich unzulässig ist (vgl. § 86a Rn. 22 ff.). Sind bereits Vollstreckungsmaßnahmen durchgeführt worden, werden diese unwirksam. Die aufschiebende Wirkung endet grundsätzlich ex tunc mit der Rechtskraft der Entscheidung des SG (vgl. § 86a Rn. 15).
Rz. 5
Die aufschiebende Wirkung bedeutet Hemmung der Vollstreckbarkeit. Die Regelung entspricht § 80 Abs. 1 VwGO. Die Bedeutung der aufschiebenden Wirkung ist streitig (Bracher, MedR 2001, 452 ff.; hierzu Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 80 Rn. 4 m. w. N.). Teilweise wird sie als Wirksamkeitshemmung, teilweise als Vollziehbarkeitshemmung verstanden. Das kann letztlich dahinstehen, denn sowohl im Falle einer Vollziehbarkeitshemmung als auch – erst Recht – im Falle einer Wirksamkeitshemmung darf der Verwaltungsakt nicht vollzogen werden (LSG NRW, Beschluss v. 19.1.2011, L 11 KA 106/10 B ER, juris; Beschluss v. 17.3.2009, L 11 B 25/09 KA ER, MedR 2011, 465; Beschluss v. 16.4.2003, L 10 B 21/02 KA ER, MedR 2004, 233; vgl. auch Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86a Rn. 4 m. w. N.; hierzu s auch § 86a Rn. 17 ff.).
Rz. 6
Nach § 86a Abs. 1 Satz 2 SGG dürfen auch rechtsgestaltend...