2.3.2.1 Gesetzlicher Richter
Rz. 22
Entscheidet das LSG durch den Berichterstatter und liegen die Voraussetzungen hierfür nicht vor, entzieht es den Beteiligten ihrem gesetzlichen Richter. Es liegt ein absoluter Revisionsgrund vor (§ 202 SGG i. V. m. § 547 Nr. l ZPO). Liegen hingegen die Voraussetzungen des Abs. 4 i. V. m. Abs. 2 vor, muss der Berichterstatter entscheiden. Eine Senatsentscheidung wäre ein Verstoß gegen die funktionelle Zuständigkeit und damit gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 4.1.1996,1 S 3230/95, NVwZ-RR 1997 S. 140; Beschluss v. 4.8.1994, 2 S 1316/94).
2.3.2.2 Entscheidung durch den Senat trotz Einverständnis?
Rz. 23
Ob trotz des Einverständnisses die Entscheidung durch den Senat weiterhin möglich bleibt und nach welchen Maßstäben der Vorsitzende bzw. Berichterstatter von seiner "Vollmacht" Gebrauch machen kann, ist im SGG nicht näher geregelt. Diese Frage ist klärungsbedürftig, denn eine Unbestimmtheit verstieße gegen die Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. l Satz 2 GG. Das etwa wäre dann der Fall, wenn der Berichterstatter angesichts des von den Beteiligten erklärten Einverständnisses mit einer Vorgehensweise nach § 155 Abs. 3 darüber zu entscheiden hat, ob er allein oder der Senat für die Hauptsacheentscheidung zuständig ist. So hat das LSG NRW die Auffassung vertreten, § 155 Abs. 3 berechtige und verpflichte den Berichterstatter nicht dazu, vor einer von den Beteiligten gewünschten Einzelrichterentscheidung die anderen Berufsrichter zu beteiligen; dies würde einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter des Art. 101 GG bedeuten; weder Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesetzeszusammenhang noch Sinn und Zweck des § 155 Abs. 3 ließen eine einschränkende Auslegung der Norm zu (Urteil v. 4.3.2010, L 18 [2] KN 268/09). Dem ist indes schon deswegen nicht zuzustimmen, weil unberücksichtigt bleibt, dass die Entscheidung durch den Berichterstatter auf einem Ausnahmetatbestand beruht und § 155 keiner erweiternden Auslegung zugänglich ist (vgl. auch BSG, Urteil v. 23.8.2007, B 4 RS 2/06 R, SozR 4-1500 § 155 Nr. 1). Das Prinzip ist die Entscheidung nach Maßgabe des § 33; jede Abweichung hiervon bedarf einer besonderen Begründung.
Rz. 24
Die Beteiligten ermöglichen durch ihr Einverständnis lediglich eine besondere, § 124 Abs. 2 vergleichbare Verfahrensweise. Die Entscheidungsbefugnis über die Hauptsache verbleibt grundsätzlich beim Senat. Da der Berichterstatter die Sache umfassend bis zur Hauptsacheentscheidung vorbereitet, könnte es zu einer Entscheidung "am Senat vorbei" kommen. § 155 Abs. 3, 4 ist daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass die von den Beteiligten abgegebenen Einverständniserklärungen nicht die alleinige Entscheidungskompetenz des Vorsitzenden bzw. Berichterstatters zwingend nach sich zieht und dadurch den Senat von der Entscheidung ausschließt, denn hiermit unterläge der gesetzliche Richter der Disposition der Beteiligten (BSG, Urteil v. 8.11.2007, B 9/9a SB 3/06 R, BSGE 99 S. 189). Daher hat der Vorsitzende bzw. Berichterstatter, dem entsprechende Einwilligungserklärungen der Beteiligten vorliegen, im Rahmen seines Ermessens pflichtgemäß darüber zu entscheiden, ob er von der besonderen Verfahrensweise der Entscheidung durch einen Berufsrichter Gebrauch macht oder ob es aus sachlichen Gründen bei der Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat verbleibt (BSG, Urteil v. 8.11.2007, B 9/9a SB3/06 R, BSGE 99 S. 189). Der Berichterstatter kann die Sache trotz eines Einverständnisses dem Senat zur Entscheidung vorlegen. Um eine sachfremde Bestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters zu vermeiden, dürfte es in Zweifelsfällen überdies angebracht sein, die anderen Berufsrichter des – weiterhin zuständigen – Senats bei der Frage, ob nach § 155 Abs. 3, 4 verfahren werden soll, vorab zu "hören" (zutreffend BSG, a. a. O.). Da ungeachtet vielfältiger Aufweichungen weiterhin der Grundsatz gilt, dass der Spruchkörper in voller Besetzung entscheidet (§ 33), muss der Vorsitzende bzw. Berichterstatter von der Möglichkeit des § 155 Abs. 3 zurückhaltend Gebrauch machen.
2.3.2.3 Ermessenskriterien
Rz. 25
Für die Ermessensentscheidung ("kann") ist maßgebend, dass alle Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als Kollegialgerichte ausgestaltet sind (vgl. § 12 Abs. l Satz l, § 33 Satz l, § 40 Satz 1), um die Qualität ihrer Rechtsprechung zu steigern. Der Entscheidung des Gesetzgebers, Kollegialgerichte einzurichten, liegt nämlich die Annahme zugrunde, dass richterlichen Entscheidungen des Kollegiums eine höhere Richtigkeitsgewähr beizumessen ist (BVerfG, Beschluss v. 5.5.1998, 1 BvL 23/97, NJW 1999 S. 274, 275). Dies folgt aus dem Umstand, dass der Entscheidungsfindungsprozess im Kollegium in aller Regel maßgeblich vom Diskurs zwischen den einzelnen Kollegiumsmitgliedern im Rahmen der Beratungen bestimmt wird. Der Berichterstatter muss hierbei die Mehrheit des Kollegiums von seiner Ansicht überzeugen. Lediglich dann, wenn die Rechtssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach gelagert ist, kann aus verfahrensökonomischen Gründen auf einen ...