2.1 Begriffliches und Rechtsnatur
Rz. 3
Ungeachtet des sozialgerichtlichen Verfahrens beherrschenden Offizialprinzips können die Beteiligten über den Streitgegenstand disponieren. Ausdruck dessen sind sowohl § 123 als auch § 156. Während § 123 bestimmt, dass das Gericht an die vom Kläger erhobenen Ansprüche gebunden ist, räumt § 156 dem Berufungsführer die Befugnis ein, das Berufungsverfahren durch einseitige Erklärung zu beenden. Die Beteiligten haben als Ausfluss dieser Dispositionsmaxime das Recht, selbst zu entscheiden, ob und mit welchem Ziel sie einen Rechtsstreit führen wollen; deshalb bleibt es ihnen überlassen, ob und in welchem Umfang sie Rechtsmittel gegen ein sie beschwerendes Urteil einlegen.
2.2 Rücknahmezeitraum (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 4
Der Rücknahmezeitraum beginnt mit der Einlegung der Berufung. Ab diesem Ereignis kann die Berufung als actus contrarius zurückgenommen werden. Für davor liegende Zeiträume kommt nur ein Verzicht in Betracht.
Rz. 5
§ 156 SGG weicht von § 516 ZPO ab. Seit Inkrafttreten des ZPO-ReformG v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1887) kann die Berufung nach § 516 Abs. 1 ZPO bis zur Verkündung des Berufungsurteils zurückgenommen werden. Hierdurch soll der Berufungskläger in die Lage versetzt werden, noch nach der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht seine Prozesstaktik dem Verhandlungsergebnis anzupassen, um der Zurückweisung des Rechtsmittels zu entgehen (Lemke, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl. 2011, § 516 Rn. 4). Dem entsprach § 156 Abs. 1 a. F. ("Die Berufung kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden."). Demgegenüber ist der Rücknahmezeitpunkt infolge der Neuregelung des § 156 Abs. 1 Satz 1 durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) mit Wirkung zum 2.1.2002 hinausgeschoben worden; hierzu BR-Drs. 132/01 v. 30.3.2011 (S. 57):
"Die Berufungsrücknahme soll grundsätzlich auch über den Schluss der mündlichen Verhandlung hinaus bis zur Rechtskraft des Berufungsurteils sowie des Beschlusses über die Zurückweisung einer unbegründeten Berufung nach § 153 Abs. 4 und über die Verwerfung einer unzulässigen Berufung nach § 153 Abs. 4 zugelassen werden. Die Neufassung entspricht der vergleichbaren Vorschrift in der VwGO (§ 126 Abs. 1) sowie der Rechtsprechung des BSG (vgl. Beschluss vom 15.11.1999 – B 2 U 247/99 B)."
Solange die Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist, kann seither die Berufung zurückgenommen werden. Dem Schutz des Berufungsbeklagten dient Abs. 1 Satz 2.
Rz. 6
Die Berufung kann noch nach dem Erlass eines Vorbehaltsurteils (§ 302 ZPO) oder eines Grundurteils (§ 304 ZPO) zurückgenommen werden, weil diese Entscheidungen nicht das Berufungsverfahren beenden. Demgegenüber ist das Teilurteil (§ 301 ZPO) ein Endurteil; es beendet die Berufungsinstanz hinsichtlich des Teils des Berufungsgegenstands, über den entschieden worden ist, folglich kann die Berufung nur bis zur Verkündung des Teilurteils zurückgenommen werden (vgl. Lemke, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 516 Rn. 4).
Rz. 7
Der Rücknahmezeitraum ist wieder eröffnet, wenn das BSG die Endentscheidung des Berufungsgerichts aufhebt und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweist.
2.3 Einwilligung des Berufungsbeklagten (Abs. 1 Satz 2)
Rz. 8
Nach Schluss der mündlichen Verhandlung (§ 121 SGG) kann die Berufung nur mit Einwilligung des Berufungsbeklagten zurückgenommen werden; hierzu BR-Drs. 132/01 v. 30.3.2011 (S. 57):
"Der Schutz des Berufungsbeklagten vor willkürlichen Dispositionen des Berufungsklägers über den Streitgegenstand ist dadurch gewährleistet dass die Zurücknahme der Berufung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung von der Einwilligung des Berufungsbeklagten abhängig gemacht wird."
2.4 Rücknahmefiktion (Abs. 2)
Rz. 9
Das SGG kannte bis zum 31.12.2011 keine § 126 Abs. 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme. Die hieraus herzuleitende Folgerung war umstritten. So wurde die Auffassung vertreten, dass über § 153 Abs. 1 die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend gelte: aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" i. S. v. § 153 Abs. 1: der Gesetzgeber habe übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung: es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs. 2 auf das Berufungsverfahren zu schließen sei (LSG Hamburg, Urteil v. 18.3.2009, L 1 R 9/09; unklar Leitherer, in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl. 2008, § 102 Rn. 8b). Dem ist das BSG entgegengetreten. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 sei nicht i. S. der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden, was sich aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO, einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion ergebe (BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, SozR 4-1500 § 102 Nr. 1; vgl. auch Kelle...