Rz. 9
Das SGG kannte bis zum 31.12.2011 keine § 126 Abs. 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme. Die hieraus herzuleitende Folgerung war umstritten. So wurde die Auffassung vertreten, dass über § 153 Abs. 1 die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend gelte: aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" i. S. v. § 153 Abs. 1: der Gesetzgeber habe übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung: es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs. 2 auf das Berufungsverfahren zu schließen sei (LSG Hamburg, Urteil v. 18.3.2009, L 1 R 9/09; unklar Leitherer, in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl. 2008, § 102 Rn. 8b). Dem ist das BSG entgegengetreten. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 sei nicht i. S. der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden, was sich aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO, einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion ergebe (BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, SozR 4-1500 § 102 Nr. 1; vgl. auch Keller, SGG, § 156 Rn. 1b; Niedermeyer, NZS 2011 S. 366; Bienert, NZS 2009 S. 554; Leopold, SGb 2009 S. 458; Keller, jurisPR-SozR 4/2011 Anm. 6 = jurisPR extra 2011 S. 116; zum strengen Ausnahmecharakter des § 102 Abs. 2: LSG NRW, Urteil v. 20.4.2011, L 9 SO 48/09). Der Gesetzgeber hat diese Bedenken aufgenommen und durch das 4. Gesetz zur Änderung des SGB IV mit Wirkung zum 1.1.2012 nunmehr ausdrücklich die Voraussetzungen für eine Berufungsrücknahmefiktion geregelt.
Rz. 10
Ungeachtet dessen bleibt der Ausnahmecharakter auch des § 156 Abs. 2 n. F. zu beachten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gilt, dass Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung grundsätzlich mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar sind, derartige Regelungen indessen einen bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachtenden Ausnahmecharakter haben (BVerfG, Beschluss v. 27.10.1998, 2 BvR 2662/95, DVBl 1999 S. 166; Beschluss v. 19.5.1993, 2 BvR 1972/92, NVwZ 1994 S. 62). Angesichts des auch im Gesetzgebungsverfahren beschriebenen Ausnahmecharakters der Norm (hierzu BT-Drs. 16/7716 S. 23) und eines von Verfassungs wegen gebotenen engen Verständnisses gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen ist dem zuzustimmen (vgl. auch Leitherer, SGG, § 102 Rn 8a; ders., NJW 2008 S. 1258, 1260; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2008, § 102 Rn. 8; Hauck, in: Hennig, SGG, 2010, § 102 Rn. 29; Zeihe, SGG, 11/2010, § 102 Rn. 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl. 2008, Kap VII, Rn. 170a; Leopold, SGb 2009 S. 458, 459; Bienert, NZS 2009 S. 554, 555; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2010, § 92 Rn. 18).
Rz. 11
Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. In seinem obiter dictum hat der 13. Senat des BSG in den Urteilen v. 1.7.2010 (B 13 R 58/09 R, SozR 4-1500 § 102 Nr. 1; B 13 R 74/09 R) auf die formalen Voraussetzungen der Betreibensaufforderung hingewiesen, die dem Richter die Bedeutung der Anordnung deutlich machen sollen (Keller, jurisPR-SozR 4/2011 Anm. 6). Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (Leopold, SGb 2009 S. 458, 460; Bienert, NZS 2009 S. 554, 556). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift (vgl. BT-Drs. 16/7716 S. 19; Keller, SGG, § 63 Rn. 3) diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, a. a. O.).
Rz. 12
Eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren ist ungeachtet der Neuregelung der Berufungsrücknahmefiktion zulässig (vgl. Leitherer, SGG, § 102 Rn. 8b; Keller, SGG, § 156 Rn. 1b; Zeihe, § 102 Rn. 12; Bienert, NZS 2009 S. 554, 558; krit. Leopold, SGb 2009 S. 458, 463). Das ergibt sich wie folgt: Ist eine Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 Satz 1 im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § ...