Rz. 20

Im zivilrechtlichen Verfahren ist sowohl im ersten Rechtszuge (vgl. § 296 ZPO) als auch in der Berufungsinstanz (§ 530 ZPO) die Zurückweisung verspäteten Vorbringens in weitem Umfange zulässig. Für das sozialgerichtliche Verfahren können diese Vorschriften wegen § 128 Abs. 1 Satz 1 grundsätzlich auch über § 202 SGG nicht entsprechend herangezogen werden. Das Gericht hat seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnen und muss demnach das Angriffs- und Verteidigungsvorbringen der Beteiligten ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt ihres Vorbringens berücksichtigen (Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl. 3/1996, § 157 Rn. 5). Diese Vorschriften gelten über § 153 Abs. 1 auch für das Verfahren in der Berufungsinstanz.

Neue Tatsachen können die Wiederholung und neue Darstellung erstinstanzlichen Vorbringens sein. Das LSG hat sie vor allem dann zu berücksichtigen, wenn der Berufungskläger geltend macht, sein tatsächliches Vorbringen habe in der ersten Instanz nicht genügend Berücksichtigung gefunden (Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 157 Rn. 5). Die Beteiligten können ferner im ersten Rechtszug nicht geltend gemachte Tatsachen und Beweismittel vorbringen. Das LSG hat diese – vorbehaltlich § 157a – auch dann zu berücksichtigen, wenn sie schon im ersten Rechtszuge hätten geltend gemacht werden können, denn es hat alle nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils eingetretenen Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen, sofern sie den Streitgegenstand betreffen (vgl. BSG, Urteil v. 17.4.1991, 1 RR 2/89, BSGE 68 S. 228). Wird das Urteil in einem gesonderten Termin verkündet, so ist ein weiteres Vorbringen der Beteiligten nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung nicht ausgeschlossen, wenn ihnen die Nachreichung eines Schriftsatzes zugestanden worden ist. Das gilt auch für das Berufungsverfahren (§ 153 Abs. 1, § 202 SGG und § 530, § 296a Satz 2, § 283 ZPO). Sofern das LSG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2) entscheidet oder eine solche nicht stattfindet (§ 126), wird die Zustellung als maßgebend erachtet (§ 133 Satz 1); entsprechendes soll in den Fällen urteilsersetzender Beschlüsse nach §§ 153 Abs. 4, 158 Satz 2 gelten (Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 157 Rn. 9). Dem kann nicht zugestimmt werden. Das LSG ist verpflichtet, Vorbringen der Beteiligten zu beachten, wenn es nach Ablauf einer gesetzten Erklärungsfrist oder nach Fertigung, aber vor Herausgabe der Entscheidung eingeht (BSG, Beschluss v. 29.8.2006, B 13 R 37/06 B, SozR 4-1500 § 153 Nr. 5; hierzu Frehse, SGb 2007 S. 509). Hiermit ist die äußere Grenze dargetan. Die Zustellung ist schon deswegen nicht maßgebend, weil das Gericht mit der Herausgabe des Beschlusses keine Herrschaft mehr über den Inhalt hat. Im Übrigen stellt sich bei mehreren Beteiligten ohnehin die Frage, welches Zustelldatum als maßgebend angesehen wird.

 

Rz. 21

Ein angefochtener Verwaltungsakt kann ggf. mit neuen Gründen versehen werden, sog. Nachschieben von Gründen. Die Frage, ob und inwieweit ein solches Vorgehens in einzelnen Rechtsbereichen zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt (nicht zulässig im StVollzG: OLG Hamm, Beschluss v. 22.8.1996, 1 Vollz [Ws] 83/96; OLG Hamburg, Beschluss v. 21.8.2008, 3 Vollz [Ws] 34/08). In Rechtsstreitigkeiten um die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsaktes ist die gerichtliche Überprüfung nicht auf die von der Verwaltung geltend gemachten Gründe beschränkt. Maßgebend ist, ob der Verwaltungsakt nach dem gesamten tatsächlich vorliegenden Sachverhalt, jedenfalls soweit er zum Bereich der den Verwaltungsakt tragenden Gründe gehört, gerechtfertigt ist, mag dieser Sachverhalt auch zum Teil nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens und des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sein (so Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 157 Rn. 12). SG und LSG müssen ihre Ermittlungen im Rahmen des von den Beteiligten durch den Verwaltungsakt und die nachfolgende Klage bestimmten Streitgegenstandes von Amts wegen auf alle von ihnen als erheblich angesehenen Umstände erstrecken und dürfen die Prüfung nicht auf die von der Verwaltung geltend gemachten Gründe beschränken. Der Pflicht des Gerichts, den Verwaltungsakt grundsätzlich mit Blick auf alle entscheidungserheblichen Umstände zu prüfen, entspricht das Recht der Behörde, auch noch in der Berufungsinstanz andere als die im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Gründe vorzutragen, um die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes zu stützen. Dem sind indessen Grenzen gesetzt. Zwar dürfen im gerichtlichen Verfahrens in den Tatsacheninstanzen neue Gründe zur Rechtfertigung eines Verwaltungsaktes vorgetragen werden, zumal sich die Verwaltung bei Erlass ihres Verwaltungsaktes auf die Angabe der maßgebend tragenden Erwägungen beschränken darf, sofern der Betroffene hierdurch in die Lage versetzt wird, seine Rechte sachgemäß zu verteidigen. Die nachgeschobenen Gründe müssen jedoch schon beim Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes vorgelegen haben (VGH Bayern, Beschluss v. ...

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