1.1 Neuregelung
Rz. 1
Erstmals mit Art. 8 des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 22.12.2011 (BGBl I 3057) erfährt die Vorschrift zum 1.1.2012 eine grundlegende Veränderung. Nach Art. 8 Nr. 8 dieses Gesetzes wird § 159 Abs. 1 wie folgt geändert:
- In Nr. 2 wird das Komma am Ende durch die Wörter "und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist." ersetzt.
- Nr. 3 wird aufgehoben.
Dem soll ausweislich BR-Drs. 315/11, S. 2, 3 zugrundeliegen:
"Die Sozialgerichte sind aufgrund der gestiegenen Zahl der Verfahren stark belastet. Zur Beschleunigung der Verfahren und zur Effizienzsteigerung in der Sozialgerichtsbarkeit sind daher Regelungen vorgesehen, die auf Vorschlägen einer Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz und einer Gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz sowie der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister zur Änderung des Prozessrechts beruhen."
Ferner wird in BT-Drs. 17/6764, S. 28 und BR-Drs. 315/11, S. 41 ausgeführt:
"Mit der Änderung wird eine Einschränkung der Zurückverweisungsmöglichkeiten an das Sozialgericht erreicht. Die Stellung des Landessozialgerichts als Entscheidungsinstanz wird gestärkt; gleichzeitig wird die erste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit entlastet, denn die Zurückverweisung soll nur noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein. Damit werden auch die Verfahrenslaufzeiten verringert. Die bisherige Nummer 1 bleibt unverändert. Wie bisher ist nach Nummer 2 ein wesentlicher Verfahrensmangel ein Zurückweisungsgrund. Allerdings muss künftig hinzukommen, dass dieser Mangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Dies ist der Fall, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert. Im Hinblick auf die sich aus den §§ 153 und 157 ergebende Pflicht des Landessozialgerichts, grundsätzlich selbst Beweise zu erheben und in der Sache zu entscheiden, wurde der ursprünglich in Nummer 3 enthaltene Zurückverweisungsgrund gestrichen. Im Interesse einer schnellen Erledigung des Rechtsstreits ist es sachgerecht, dem Landessozialgericht die Entscheidung des Rechtsstreits unter Berücksichtigung der nach Erlass des angefochtenen Urteils bekannt gewordenen neuen Tatsachen oder Beweismittel zu übertragen."
Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht, weil ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf zwei Tatsacheninstanzen nicht besteht (st. Rspr. des BVerfG; vgl. etwa BVerfG, Urteil v. 4.7.1995,1 BvF 2/86 u. a., BVerfGE 92 S. 365, 410).
1.2 Kritik
Rz. 2
Die Neuregelung beruht auf Vorschlägen der Justizministerkonferenz, was mit Blick auf die Zielrichtung der Neuregelung durchaus von Interesse ist. Die Gesetzesbegründung (vgl. Rz. 1) ist verfehlt. Die Formulierung "Die Stellung des Landessozialgerichts als Entscheidungsinstanz wird gestärkt" verdeckt den wahren Sachverhalt. Von einer Effizienzsteigerung (so Gesetzentwurf der Bundesregierung in BR-Drs. 315/11 S. 2) kann keine Rede sein. Die Neuregelung stärkt zwar die verfahrensrechtliche Bedeutung des LSG für die Streitentscheidung nachhaltig zu Lasten der ersten Instanz. Das ist umso erstaunlicher als der Gesetzgeber anlässlich einer Vielzahl von ZPO-Novellen ein durchaus anderes Ziel verfolgt, nämlich eine deutliche Stärkung der Eingangsinstanzen. Zu verweisen ist beispielsweise auf die durch das ZPO-ReformG (BGBl. I S. 1881, 1895) mit § 511 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO zum 1.1.2002 eingeführte Zulassungsberufung. Auch für die VwGO gilt dieser Befund. Jeweils wird die erste Instanz gestärkt, was augenfällig dadurch ist, dass die Berufung seit dem am 1.1.1997 (6. VwGO-ÄndG) der Zulassung bedarf. Zuvor war die Berufung zulassungsbedürftig in Abhängigkeit vom Wert des Beschwerdegegenstandes in Bagatellsachen sowie in einigen gesetzlich besonders geregelten Fällen (§ 131 Abs 2 a. F.). Durch die Neuregelung wurde die im Regelfall zulassungsfreie Berufung durch die allgemeine Zulassungsberufung ersetzt. Hierdurch erhoffte sich der Gesetzgeber einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Berufungsgerichte (BT-Drs. 13/1433 S. 13). Er ging dabei davon aus, dass 3eine Tatsacheninstanz regelmäßig ausreiche und die zweite Tatsacheninstanz nur in solchen Verfahren zur Verfügung stehen soll, in denen eine Überprüfung der Entscheidung erster Instanz von der Sache her notwendig sei (BT-Drs. 13/3993 S. 13; BT-Drs. 13/1433 S. 13). Der "SGG-Gesetzgeber" hingegen hat wenig Vertrauen in die Arbeit der erstinstanzliche Sozialgerichte. So heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Änderung des SGG und des ArbGG vom 11.1.2008 (BT-Drs. 16/7716 S. 18) im Zusammenhang mit der Schaffung erstinstanzlicher Zuständigkeiten für das LSG in § 29:
„Im Sozialgerichtsverfahren spielen Tatsachenfragen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zudem sind existenzielle Leistungen häufig Streitgegenstand. In den meisten sozialgerichtlichen Rechtsbereichen ist daher eine zweite Tatsacheninstanz notwendig. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren sind jedoch...