Rz. 5
Sofern das LSG nicht alle – aus Sicht des BSG – entscheidungserheblichen Tatsachen festgestellt hat, ist seine Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1), es sei denn, dem BSG sind eigene Feststellungen möglich. Das ist unter engen Voraussetzungen zulässig. Eigene Feststellungen kann das BSG treffen, soweit es um allgemeinkundige Tatsachen geht, die nicht nur den konkreten Fall betreffen und deren Erkenntnis aus allgemein zugänglichen Quellen gewonnen werden kann.
Rz. 6
Von Amts wegen zu berücksichtigende Tatsachen, zu denen das BSG ggf. auch selbst ermitteln muss, betreffen insbesondere die Prozessvoraussetzungen. Hierzu zählen die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Klage, Berufung und Revision, die Beteiligtenfähigkeit sowie die Prozessfähigkeit, ferner das Rechtsschutzbedürfnis, eine anderweitige Rechtshängigkeit und das Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über den Streitgegenstand. Von Amts wegen zu berücksichtigen ist auch eine unterlassene Beiladung.
Rz. 7
Selbst feststellen darf das BSG Rechtstatsachen, die auch allgemeine oder generelle Tatsachen genannt werden (vgl. BSG, Urteil v. 25.10.1994, 3/1 RK 57/93). Zu den generellen Tatsachen rechnet auch, ob eine bestimmte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und ob eine diesem Standard genügende Behandlung im Inland möglich ist (vgl. BSG, Urteil v. 13.12.2005, B 1 KR 21/04 Rz. 18). Eine generelle Tatsache ist ferner, ob eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Behandlung einer Krankheit im Inland möglich ist, ob also in qualitativer Hinsicht eine Versorgungslücke besteht oder nicht (vgl. BSG, Urteil v. 16.6.1999, B 1 KR 4/98 R). Diese Fragen stellen sich nicht nur im Einzelfall und können nicht von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht unterschiedlich beantwortet werden (vgl. auch BSG, Beschluss v. 26.10.2020, B 9 BL 2/20 B). Soweit die Tatsachenfeststellungen insgesamt unzureichend sind, verweist das BSG die Sache auch hinsichtlich der generellen Tatsachen zurück (vgl. BSG, Urteil v. 2.4.2009, B 2 U 9/08 R Rz. 28).
Rz. 8
Die Bindung des Revisionsgerichts an tatsächliche Feststellungen des vorinstanzlichen Gerichts bezieht sich mithin nur auf Feststellungen zum speziellen Sachverhalt. Rechtstatsachen, die für die Auslegung, d. h. für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt werden, unterliegen hingegen nicht der Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen (vgl. BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 20/04 R). Soweit Rechtstatsachen für die Auslegung von Rechtsnormen durch das Revisionsgericht von Bedeutung sind, ist das Revisionsgericht berechtigt, das für ihre Feststellung erforderliche Material selbst zu ermitteln – etwa durch die Anhörung eines Sachverständigen (vgl. BSGE 72 S. 285, 290) – und zu würdigen oder das bereits vorliegende Material anders als das Berufungsgericht zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil v. 10.12.1987, 9a RVs 11/87). Das BSG begründet dies im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung wie folgt (vgl. BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R; BSG, Beschluss v. 17.5.2019, B 2 U 131/18 B): "Wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Krankheitsverursachung durch schädigende Einwirkungen am Arbeitsplatz sind keine Tatsachen des Einzelfalles, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind. Ihre Ermittlung dient auch nicht nur der Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt. Vielmehr geht es um die Feststellung sog. Rechtstatsachen, die für die Auslegung, d. h. für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm – hier der BK Nr. 1317 Anl. BKV – benötigt werden. Solche Rechtstatsachen unterliegen nicht der in § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen." Diese Befugnis des Revisionsgerichts gilt auch, soweit Rechtstatsachen für die Entscheidung erheblich sind, ob vom Revisionsgericht auszulegende untergesetzliche Normen sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung halten oder in ihrer tatsächlichen Auswirkung gegen höherrangiges Recht verstoßen. Soweit eine Rechtsverordnung die Berufsfreiheit eingeengt hat, ist das Revisionsgericht sogar verpflichtet, die Einhaltung des Gebots rationaler Abwägung in eigener Wertung der Rechtstatsachen zu kontrollieren (vgl. BVerfG, Urteil v. 22.10.1991, 1 BvR 393/85, 1 BvR 610/85).
Rz. 9
In Ausnahmefällen kann das BSG aus prozessökonomischen Gründen vom LSG nicht festgestellte Tatsachen berücksichtigen, wenn sie übereinstimmend von den Beteiligten erklärt worden sind (vgl. BSG, Urteil v. 5.10.2006, B 10 EG 6/04 R Rz. 46; BSG, Urteil v. 21.2.1985, 11 RA 2/84: Vermeidung einer Vorlage an den Großen Senat) Insofern ist aber Zurückhaltung angebracht. Prozessökonomische Gründe rechtfertigen es niemals, bindende gesetzliche Vorschriften unberücksichtigt zu la...