Rz. 7
An einer beschwerdefähigen Entscheidung fehlt es, wenn der Beschwerdeführer die Untätigkeit des Gerichts rügt. Dennoch wird (wurde) eine Untätigkeitsbeschwerde teilweise als statthaft angesehen (LSG NRW, Beschluss v. 20.3.2002, L 10 B 29/01 SB, SGb 2002 S. 734; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 12.4.2000, L 1 B 49/00, NZS 2000 S. 626, Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8. Aufl.2005, § 172 Rn. 2c; VGH Bayern, Beschluss v. 27.1.2000, 10 C 99.3695, NVwZ 2000 S. 693; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 15.3.2004, 24 W 8/04, NJW-RR 2004 S. 1723; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 146 Rn. 32 und § 166 Rn. 19). Begründen lässt sich dies u. a. wie folgt: Art. 13 EMRK bestimmt, dass jede Person, die in ihren in der EMRK anerkannten Rechten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine "wirksame" Beschwerde zu erheben. Zur Bindung aller Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Demzufolge erstreckt sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR gemäß Art. 59 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG auf alle staatlichen Organe und Gerichte und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen ihre Bindung an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht einen fortdauernden Verstoß gegen die EMRK zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen (BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111 S. 307, 322 ff.). Ein konventionswidriger Zustand muss daher durch die Fachgerichte mittels einer erweiternden Auslegung des § 172 beseitigt werden können.
Rz. 8
Gegen die Statthaftigkeit einer Untätigkeitsbeschwerde spricht indes, dass das SGG für Fälle einer gerichtlichen Untätigkeit keine unmittelbare, förmliche Sanktionsmöglichkeit vorgesehen hat; selbst im Falle einer rechtsmissbräuchlichen Untätigkeit können daher nur Ansprüche gemäß Art. 50 EMRK oder § 839 BGB bestehen (LSG NRW, Beschluss v. 8.11.2000, L 8 B 9/00 RA; Beschluss v. 22.2.1996, L 10 SVs 1/96, Breithaupt 1996 S. 787, 788; OVG Bremen, Beschluss v. 10.10.1983, 2 B 96/83, NJW 1984 S. 992, 993; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 15.5.2003, L 13 B 1/03; Beschluss v. 18.9.2001, L 8 B 177/01; Zeihe, SGG, § 172 Rn. 5d). Die unter Rz. 7 skizzierte Auffassung war zudem unter Geltung der maßgebenden Rechtslage bis 31.12.2011 auch aus anderen Gründen nur schwerlich vertretbar. Das BVerfG hat hinlänglich deutlich gemacht, dass die gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitenden Gebot der Rechtsmittelklarheit kaum genügt (BVerfG, Beschluss v. 10.6.2005, 1 BvR 2790/04, NJW 2005 S. 2685; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, NJW 2003 S. 1924). Danach müssen die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtssuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (BVerfG, Beschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, NJW 2003 S. 1924). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger insbesondere die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist. Deshalb nimmt der EGMR an, eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde sei kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer (Urteil v. 8.6.2006, 75529/01, NJW 2006 S. 2389). Ausgehend hiervon verbleibt kein Raum dafür, zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die EMRK ohne gesetzliche Grundlage durch Richterrecht eine Untätigkeitsbeschwerde zu schaffen, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken. Dementsprechend vertreten BFH, BVerwG und BSG die Auffassung, dass es ein Rechtsinstitut der "verfassungsrechtlich gebotenen Untätigkeitsbeschwerde" nicht gibt (BFH, Beschluss v. 4.10.2005, II S 10/05; Beschluss v. 24.5.2006, VII S 12/06; BVerwG, Beschluss v. 5.12.2006, 10 B 68/06; BSG, Beschluss v. 21.5.2007, B 1 KR 4/07 S, SozR 4-1500 § 160a Nr. 17; vgl. auch Beschluss v. 15.8.2005, B 1 A 1/04 S; vgl. aber: BSG, Beschluss v. 13.12.2005, B 4 RA 220/04 B, SozR 4-1500 § 160a Nr. 11; dagegen: BSG, Beschluss v. 4.9.2007, B 2 U 308/06 B, SozR 4-1500 § 160a Nr. 18; Beschluss v. 6.2.2008, B 6 KA 61/07 B; ablehnend auch Leitherer, SGG, § 173 Rn. 8; Böttiger, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 173 Rn. 52); sie sei weder in der VwGO vorgesehen noch von Verfassungs wegen geboten oder in entsprechender Anwendung anderer gesetzlicher Vorschriften oder der EMRK zulässig (BVerwG, Beschluss v. 30.1.2003, 3 B 8/03, NVwZ 2003 S. 869; so auch VGH Mannheim, Beschluss v. 8.1.2003, 12 S 2562/02, NVwZ 2003 S. 885).