Rz. 4
Die Wiederaufnahmeklage ist als außerordentlicher Rechtsbehelf darauf gerichtet, die Rechtskraft eines Urteils oder einer gleichzusetzenden Entscheidung zu beseitigen, wenn schwerwiegende Umstände eine erneute richterliche Beurteilung erforderlich machen. Nicht jeder tatsächliche oder rechtliche Irrtum und nicht jedes fehlerhafte Verfahren rechtfertigen die Durchbrechung der Rechtskraft. Bei dem Wiederaufnahmeverfahren handelt es sich um ein strenges förmliches Verfahren.
Die Wiederaufnahmegründe sind abschließend in §§ 579, 580 ZPO und § 179 Abs. 2 geregelt. Die Bestimmungen über die Wiederaufnahmegründe sind eng auszulegen (LSG Hessen, Urteil v. 19.10.2000, L 5 V 915/96). Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, den Widerstreit zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und der Forderung nach materieller Gerechtigkeit, die beide aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgen, zu entscheiden (BVerfG, Beschluss v. 8.11.1967, 1 BvR 60/66). Die Gerichte sind nicht befugt, die in §§ 579, 580 ZPO abschließend geregelten Tatbestände im Wege der Analogie zu erweitern (BVerwG, Beschluss v. 2.8.2005, 2 B 34/05). Andere Tatsachen, die von den Wiederaufnahmegründen nicht erfasst werden, wie z. B. die Erklärung einer Norm als verfassungswidrig durch das Bundesverfassungsgericht, kann ein Beteiligter im Wege des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X geltend machen. Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung steht einer Entscheidung des Verwaltungsträgers nach § 44 SGB X nicht entgegen.
Die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen eines Wiederaufnahmegrundes trägt der Wiederaufnahmekläger (BGH, Urteil v. 22.9.1982, IVb ZR 576/80).
2.2.1 Nichtigkeitsklage, § 579 ZPO
Rz. 5
Die Nichtigkeitsklage ermöglicht die Wiederaufnahme eines Verfahrens, wenn der Prozess mit besonders schweren prozessualen Fehlern behaftet ist. . Ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Nichtigkeitsgrund und der rechtskräftigen Entscheidung ist nicht erforderlich, die Gesetzesverletzung wird vermutet. Die Nichtigkeitsgründe sind in § 579 Abs. 1 ZPO abschließend aufgezählt (BVerfG, Beschluss v. 24.10.2017, 1 BvR 2762/12, 1 BvR 2763/12). Sie entsprechen den absoluten Revisionsgründen in § 547 Nr. 1 bis 4 ZPO.
Rz. 6
Eine Nichtigkeitsklage findet in folgenden Fällen statt:
§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO,
wenn das erkennende Gericht in der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorschriftsmäßig besetzt war (BGH, Urteil v. 17.9.1998, I ZR 93/96).
Es genügt nicht, dass die fehlerhafte Besetzung auf einer irrigen Gesetzesauslegung oder einer irrtümlichen Abweichung von den Festsetzungen des Geschäftsverteilungsplans beruht, es muss sich um eine klar zu Tage liegende Gesetzesverletzung handeln, die auf einer nicht mehr hinnehmbaren Rechtsansicht und damit auf objektiver Willkür beruht (BGH, Urteil v. 22.11.1994, X ZR 51/93; BFH, Urteil v. 7.2.2018, XI K 1/17 zur Verletzung der Vorlagepflicht m. w. N.).
§ 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO,
wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs oder eines Rechtsmittels ohne Erfolg geltend gemacht ist (BGH, Urteil v. 15.9.2016, III ZR 461/15).
§ 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO,
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt oder das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war (BGH, Urteil v. 15.9.2016, III ZR 461/15).
.
§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO,
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie die Prozessführung nicht ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat.
§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO differenziert nicht zwischen gesetzlichen und gewillkürten Vertretern. Der Wiederaufnahmegrund des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ist erfüllt, wenn die Prozessfähigkeit eines prozessunfähigen Beteiligten im Hauptverfahren bejaht worden ist und die Nichtigkeitsklage auf die nicht ordnungsgemäße Vertretung des Beteiligten gestützt wird (BSG, Urteil v. 14.6.1978, 9/10 RV 31/77; BSG, Beschlüsse v. 8.5.1970, 7 RU 12/70, und v. 22.12.2016, B 14 AS 279/16 B u. a.; BGH, Urteil v. 5.5.1982, IVb ZR 707/80; vgl. zur Darlegungslast LAG Schleswig-Holstein, Urteil v. 8.2.2018, 5 Sa 347/17). Wenn im Verfahren die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht nicht erfolgt ist und der Beteiligte die Prozessführung des vollmachtlosen Vertreters nicht ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat, ist der Nichtigkeitsgrund des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ebenfalls gegeben (BVerfG, Beschluss v. 29.10.1997, 2 BvR 1390/95). Der Nichtigkeitsgrund des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO kann nur von dem nicht ordnungsgemäß vertretenen Beteiligten, nicht vom Gegner geltend gemacht werden.
2.2.2 Restitutionsklage, § 580 ZPO
Rz. 7
Die Restitutionsklage soll verhindern, dass die Autorität des Gerichts und das Vertrauen in die Rechtsprechung beeinträchtigt wird, wenn rechtskräftige Urteile nicht überprüft werden können, obwohl ihre Grundlagen erschüttert sind (BVerfG, Beschluss v. 24.10.2017, 1 BvR 2762/12, 1 BvR 2763/12). Die Restitutionsgründe sind in ...