Rz. 24
Ob mehrere Gegenstände dieselbe oder mehrere Angelegenheiten darstellen, hängt davon ab, ob sie von einem einheitlichen Auftrag umfasst werden, zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht und der Rechtsanwalt einen einheitlichen Tätigkeitsrahmen wahrt (BVerwG, Urteil v. 9.5.2000, 11 C 1/99; BGH, Urteil v. 21.6.2011, VI ZR 73/10; BVerfG, Beschluss v. 15.7.1997, 1 BvR 1174/90). Ein innerer Zusammenhang besteht, wenn die verschiedenen Gegenstände bei objektiver Betrachtung und unter Berücksichtigung des mit der anwaltlichen Tätigkeit nach dem Inhalt des Auftrags erstrebten Erfolgs zusammen gehören (BGH, Urteil v. 11.1.2011, VI ZR 64/10). Bei der Beauftragung eines Anwalts durch mehrere Mandanten kann ein einheitlicher Auftrag vorliegen; ggf. muss durch Auslegung ermittelt werden, ob der Anwalt für die verschiedenen Auftraggeber gemeinsam oder ob er für jeden von ihnen gesondert tätig werden sollte (BGH, Urteil v. 27.7.2010, VI ZR 261/09). Für ein Tätigwerden "in derselben Angelegenheit" im gerichtlichen Verfahren genügt es regelmäßig, dass die Begehren mehrerer Auftraggeber einheitlich in demselben Verfahren geltend gemacht werden und zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht (zu den Individualansprüchen nach dem SGB II: BSG Urteil v. 2.4.2014, B 4 AS 27/13 R; zur Beauftragung durch mehrere Auftraggeber: BGH, Urteile v. 11.1.2011, VI ZR 64/10, und v. 21.6.2011, VI ZR 73/10). Zwischen den Gegenständen mehrerer selbstständiger Parallelverfahren kann ein solcher innerer Zusammenhang gegeben sein, wenn der Rechtsanwalt keine nennenswerten unterschiedlichen materiell-rechtlichen und prozessualen Besonderheiten zu beachten hat oder er – losgelöst vom etwaigen Vorliegen rechtlicher Besonderheiten – in den Verfahren auftragsgemäß im Wesentlichen gleichgerichtet vorgeht (BVerwG, Urteil v. 9.5.2000, 11 C 1/99; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.8.2011, 2 E 772/11; LSG Thüringen, Beschlüsse v. 5.3.2015, L 6 SF 104/15 B bei Bescheiden nach § 96, und v. 6.11.2014, L 6 SF 1022/14 B zur Verfolgung von Individualansprüchen nach dem SGB II von Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft in getrennten Klageverfahren).
Rz. 25
In § 16 RVG ist der Begriff "dieselbe Angelegenheit" für einige Fallgestaltungen definiert. Für Gebühren in sozialrechtlichen Angelegenheiten sind folgende Ziffern einschlägig:
Nr. 1 |
Verwaltungsverfahren auf Aussetzung oder Anordnung der sofortigen Vollziehung und Abänderungs- bzw. Aufhebungsverfahren |
Nr. 2 |
Prozesskostenhilfeverfahren und Hauptsacheverfahren (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 6.11.2019, 1 WDS-KSt 2/19 zum Prozesskostenhilfenachprüfungsverfahren nach § 120a ZPO) |
Nr. 3 |
mehrere Prozesskostenhilfeverfahren in einem Rechtszug |
Nr. 12 |
im Kostenfestsetzungs- und -ansatzverfahren mehrere Verfahren über die Erinnerung und die Beschwerde in demselben Beschwerderechtszug |
Nr. 13 |
Rechtsmittelverfahren und Verfahren über die Zulassung des Rechtsmittels, dies gilt nicht für Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren |
Rz. 26
Der Begriff "verschiedene Angelegenheit" ist in § 17 RVG definiert. Das Verfahren über ein Rechtsmittel und der vorausgegangene Rechtszug stellten verschiedene Angelegenheiten dar. Nach § 17 Nr. 1a RVG stellen ein Verwaltungsverfahren, das sich anschließende Widerspruchsverfahren, ein Verwaltungsverfahren auf Aussetzung oder Anordnung der sofortigen Vollziehung und ein gerichtliches Verfahren jeweils eine eigene Angelegenheit dar, die gesondert abgerechnet werden. Ebenfalls sind das Mahnverfahren und das streitige Verfahren (§ 17 Nr. 2) sowie das Verfahren in der Hauptsache und ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren nach § 86b (§ 17 Nr. 4c und 4d) jeweils gesonderte Verfahren. Die von Amts wegen getroffene Entscheidung über die Anordnung eines Sofortvollzuges nach § 97 Abs. 4 SGB V stellt keine verschiedene Angelegenheit i. S. d. § 17 RVG dar, da es sich um ein nachgelagertes Verfahren handelt (BSG, Urteil v. 18.10.2007, B 6 4 KA 4/07 R).
Rz. 27
Einmal nach § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG entstandene Gebühren können nach § 15 Abs. 4 RVG durch nachträglich eintretende Ereignisse nicht mehr entfallen. Im Fall der Trennung von Verfahren handelt es sich nicht mehr um denselben Gebührenrechtszug, sondern um verschiedene Rechtszüge, in denen ab dem Zeitpunkt der Trennung gesonderte Gebühren anfallen können (BVerwG, Beschluss v. 4.9.2009, 9 KSt 10/09; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 28.2.2007, L 1 B 467/06 SK). Bei einer Verbindung von mehreren Verfahren liegt ab dem Zeitpunkt der Verbindung nur noch eine gebührenrechtliche Angelegenheit vor; durch die Verbindung entsteht keine neue gebührenrechtliche Angelegenheit (vgl. BGH, Beschluss v. 14.4.2010, IV ZB 6/09; LSG Thüringen, Beschluss v. 10.4.2014, L 6 SF 193/14; LSG Bayern, Beschluss v. 31.7.2012, L 15 SF 214/10 B ER). Falls vor dem Zeitpunkt der Verbindung in den verbundenen Verfahren schon Gebühren angefallen sind, steht dem Rechtsanwalt ein Wahlrecht zu. Er kann entweder nur die Gebühren aus dem verbundenen Verfahren oder nur die bere...