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Das RVG sieht an mehreren Stellen vor, dass eine Gebühr ganz oder teilweise auf eine andere Gebühr anzurechnen ist (sog. Anrechnungslösung, z. B. Vorbem. 2.3 Abs. 4 VV RVG, Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG). Grund für die Anrechnung ist, dass die beiden Gebühren in einem bestimmten Umfang dieselbe Tätigkeit, wie z. B. die Informationsbeschaffung entgelten. Die Anrechnung will verhindern, dass der Rechtsanwalt für die betreffende Tätigkeit doppelt honoriert wird (BT-Drs. 16/12717 S. 67; BGH, Beschluss v. 17.4.2012, XI ZB 22/11).
In der Rechtsprechung war umstritten, ob eine Gebühr von vorneherein nur in gekürzter Höhe entsteht, wenn auf sie eine andere Gebühr angerechnet wird, oder ob die Anrechnungsvorschrift nur das Kostenfestsetzungsverfahren nach § 11 RVG, d. h. bei der Kostenfestsetzung im Innenverhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Auftraggeber, zu berücksichtigen ist (vgl. zum Meinungsstand BGH, Beschluss v. 22.1.2008, VIII ZB 57/07). Die Bestimmung des § 15a RVG (in Kraft ab dem 1.9.2009) stellt klar, dass eine Anrechnungsvorschrift grundsätzlich nur das Innenverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant betrifft (BGH, Beschluss v. 2.9.2009, II ZB 35/07, und v. 9.12.2009, XII ZB 175/07). Nach § 15a Abs. 1 RVG beeinflusst die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere nicht das Entstehen der anderen Gebühr; d. h. die aufeinander anzurechnenden Gebühren entstehen zunächst grundsätzlich voneinander unabhängig in voller Höhe ungekürzt. Ein Rechtsanwalt kann grundsätzlich beide Gebühren jeweils in voller Höhe geltend machen. Er hat die freie Entscheidung, welche Gebühr er fordert und – falls die Gebühren von verschiedenen Personen geschuldet werden – welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Er darf nur von seinem Auftraggeber im Ergebnis nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren fordern (BT-Drs. 16/12717 S. 68).
Nach § 15a Abs. 2 RVG n. F. ist der Anrechnungsbetrag auf den höchsten einschlägigen Gebührensatz aus dem Gesamtbetrag der betroffenen Wertteile gedeckelt, wenn mehrere Gebühren auf eine einheitliche Gebühr anzurechnen sind. Anzurechnen ist höchsten eine 0,75-Geschäftsgebühr aus dem Gesamtwert der einzelnen Gegenstände. Bei Betragsrahmengebühren darf der Gesamtbetrag der Anrechnung den für die Anrechnung bestimmten Höchstbetrag nicht übersteigen.
Eine Anrechnung wirkt sich nach § 15a Abs. 2 RVG a. F. bzw. § 15a Abs. 3 RVG n. F. im Verhältnis zu einem erstattungspflichtigen Dritten, z. B. einem Prozessgegner, grundsätzlich nicht aus. Eine außergerichtlich entstandene Geschäftsgebühr dient nicht dazu, den Kostenerstattungsschuldner einer Verfahrensgebühr bzw. einer Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahren zu entlasten; vielmehr ist im Kostenfestsetzungsverfahren die volle Verfahrensgebühr/Geschäftsgebühr festzusetzen (BT-Drs. 16/12717 S. 68). Der Dritte kann sich auf die Anrechnung nur dann berufen, wenn er auf eine der beiden Gebühren bereits gezahlt, diese anderweitig erfüllt hat, einer der Gebührenansprüche gegenüber ihm tituliert ist oder beide Gebühren in demselben Verfahren, z. B. im Kostenfestsetzungsverfahren (Verfahren nach § 197 oder nach § 63 Abs. 3 SGB X), geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Anrechnung der Gebühr auf eine andere Gebühr möglich. Der Dritte soll nicht über den Betrag hinaus auf Ersatz oder Erstattung in Anspruch genommen werden, den der Rechtsanwalt von seinem Auftraggeber verlangen kann. Gebühren eines Rechtsanwalts, die nicht erstattungsfähig sind (Gebühr für das Betreiben eines Verwaltungsverfahren oder eines Verfahrens nach § 86a SGG, § 193 Rz. 18) und damit nicht Gegenstand eines Kostenfestsetzungsverfahrens sein können, sind nicht anzurechnen. Die Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG muss sich ein Rechtsanwalt gegen sich gelten lassen, wenn er seinen Vergütungsanspruch aus § 126 ZPO gegenüber dem Prozessgegner verfolgt (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss v. 3.2.2017, L 19 AS 1723/16).
Die Anrechnungsvorschrift des § 15a Abs. 1 RVG gilt auch dann, wenn der Anwalt im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden ist. Die Staatskasse, die in diesem Fall nach § 45 Abs. 1 Satz 1 RVG Gebührenschuldner wird, tritt insoweit an die Stelle des Auftraggebers (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 1.2.2017, L 19 AS 1408/16 B; LSG Bayern, Beschluss v. 29.11.2016, L 15 SF 97/16 E m. w. N.). Deshalb findet § 15a Abs. 2 RVG im Verhältnis gegenüber der Staatskasse keine Anwendung (vgl. LSG Bayern, Beschluss v. 29.11.2016, L 15 SF 97/16 E m. w. N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 1.2.2017, L 19 AS 1408/16 B).