Rz. 59
Bei der Bestimmung der Höhe einer Betragsrahmengebühr ist im konkreten Einzelfall von der Mittelgebühr auszugehen, mit der die Tätigkeit eines Rechtsanwalts in einem "Normal-/Durchschnittsfall" abgegolten wird. Unter einem "Normalfall" ist ein Fall zu verstehen, in dem sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts unter Beachtung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt aller sozialrechtlichen Fälle abhebt (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R). Mit dem Kriterium "Normal-/Durchschnittsfall" und der daran anknüpfenden Orientierung an einem Mittelwert soll ein fester Anhalt für die Ermessensausübung gewonnen werden. Diese Vorgehensweise trägt Vereinfachungs- und Zweckmäßigkeitsgründen sowie dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung (BSG, Urteile v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R, und v. 26.2.1992, 9 RVs 3/90; BVerwG, Urteil v. 17.8.2005, 6 C 13/04). Gleichzeitig dient das Kriterium "Normal-/Durchschnittsfall" zur Einordnung der Fälle innerhalb der durch den Gebührenrahmen vorgegebenen Bewertungsskala. Ob ein Durchschnittsfall vorliegt, ergibt sich aus dem Vergleich mit den sonstigen bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängigen Streitsachen. Ein Abweichen von der Mittelgebühr ist bei einem Durchschnittsfall nicht zulässig (BSG, Urteile v. 26.2.1992, 9a RVs 3/90, v. 22.3.1984, 11 RA 58/83, und v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; BVerwG, Beschluss v. 18.9.2001, 1 WB 28.01).
Die Mittelgebühr errechnet sich aus der Mindestgebühr zuzüglich der Hälfte des Unterschieds zwischen Mindest- und Höchstgebühr. Sie kann auch ermittelt werden, indem man Mindest- und Höchstgebühr addiert und das Ergebnis durch 2 dividiert (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R). Bei Abweichungen von einem Durchschnittsfall kann der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG eine geringere oder höhere Gebühr bis zur Grenze des vorgegebenen Rahmens ansetzen. Dabei wird dem Rechtsanwalt ein Toleranzrahmen eingeräumt. Ein Rechtsanwalt kann eine Gebühr erheben, die bis zu 20 % über der vom Gericht als objektiv angemessen gehaltenen Gebühr liegt (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; zweifelnd noch zur Vorgängervorschrift des § 12 BRAGO: BSG, Urteil v. 22.3.1984, 11 RA 58/83; BVerwG, Urteil v. 17.8.2005, 6 C 13/04; a. A. BGH, Beschluss v. 13.1.2011, IX ZR 110/10, wonach der Toleranzrahmen auch bei einer Mittelgebühr zu beachten ist). Der größte Teil des gesamten Gebührenrahmens wird bei der Annahme eines Toleranzrahmens von 20 % abgedeckt. Dies spricht eher für die Annahme einer geringeren Toleranzgrenze (BSG, Urteil v. 22.3.1984, 11 RA 58/83; LSG Sachsen, Beschluss v. 7.2.2008, L 6 B 33/08 AS-KO). Ein Abweichen von der Mittelgebühr hat der Rechtsanwalt näher zu begründen (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R). Im Fall der Mehrfachvertretung wird aus dem erhöhten Rahmen nach Nr. 1008 VV RVG (Rz. 32) für den Einzelfall eine angemessene Gebühr unter Berücksichtigung der Kriterien des 14 Abs. 1 RVG gebildet.
Rz. 60
Neben den in § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG aufgezählten 4 Bemessungskriterien – Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers – ist bei der Bestimmung der Gebührenhöhe als weiteres Bemessungskriterium das Haftungsrisiko des Rechtsanwalts (§ 14 Abs. 1 Satz 3 RVG) zu berücksichtigen (BSG, Urteil v. 27.1.2009, B 7/7a AL 20/07 R). Die Aufzählung der Bewertungskriterien in § 14 Abs. 1 RVG ist nicht enumerativ, sondern es handelt um eine beispielhafte Aufzählung, die im Einzelfall noch erweitert werden kann Als weitere Kriterien kommen u. a. Spezialkenntnisse eines Rechtsanwalts in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht, Sprachkenntnisse eines Rechtsanwalts, die den Einsatz eines Dolmetschers ersparen, sowie die Tätigkeit in der Nachtzeit, an Wochenenden und an Feiertagen in Betracht. Das anwaltliche Interesse an einer angemessenen Vergütung stellt kein Kriterium i. S. v. § 14 RVG dar. Betriebswirtschaftliche Erwägungen, insbesondere die allgemeine Kostenstruktur von Rechtsanwaltskanzleien und das Erfordernis einer bestimmten Umsatzerzielung, sind bei der Bemessung der Gebührenhöhe nicht gebührenerhöhend zu berücksichtigen. Das Gebührensystem des RVG stellt nicht entscheidend auf die Entlohnung der Leistung, der Arbeit oder des Aufwandes im konkreten Fall ab, sondern die Bestimmungen des RVG sehen bezüglich der gesetzlichen Gebühren, die nach §§ 193 Abs. 3 bzw. 197a SGG, § 162 Abs. 2 VwGO nur erstattungsfähig sind, in generalisierender Form für alle anwaltliche Tätigkeit Pauschalvergütungssätze vor. Das RVG sichert nicht in jedem Einzelfall, dass die Gebühr genau dem Wert und dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit entspricht. Die gesetzliche Gebühr kann im konkreten Fall hinter dem Aufwand zurückbleiben oder ihn übersteigen. Nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ist für die Bestimmungen des RVG das gesetzgeberische Ziel bestimmend, den Anwälten für ihre...