2.3.1 Gebundene Verwaltungsentscheidungen
Rz. 24
Die Anfechtungsklage ist gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 begründet, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt (beschwert) ist. Die Verpflichtungsklage ist begründet, wenn die Ablehnung des beantragten Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. In der Form der Untätigkeitsklage ist die Verpflichtungsklage begründet, wenn die Unterlassung des beantragten Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Die Rechtsverletzung muss jeweils in der Verletzung oder Missachtung subjektiver Rechte, d. h. der dem Kläger zugewiesenen Rechte bestehen.
Rz. 25
Der Verwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn er gegen höherrangiges Recht verstößt. Dazu gehören das Grundgesetz, einfache Gesetze und untergesetzliche Rechtnormen (Rechtsverordnungen oder Satzungen). Der rechtswidrige Verwaltungsakt muss noch anfechtbar, d. h. er darf noch nicht bestandskräftig (bindend) geworden sein (vgl. dazu die Kommentierung zu § 77).
Rz. 26
Auf Sozialleistungen besteht grundsätzlich ein Rechtsanspruch, wenn die materiell-rechtlich geregelten Voraussetzungen vorliegen. Dies stellt § 38 SGB I klar.
2.3.2 Ermessensentscheidungen
Rz. 27
Steht der Verwaltungsakt im Ermessen des Sozialleistungsträgers, so ist die Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder Unterlassungsklage nur dann begründet, wenn der Verwaltungsakt Ermessensfehler aufweist. Ob Ermessen eingeräumt wird, ist dem materiellen Recht zu entnehmen. § 54 Abs. 2 Satz 2 umschreibt die Arten der Ermessensfehler und die vorzunehmende gerichtliche Kontrolle. Das Gericht prüft im Rahmen der Rechtskontrolle, ob Ermessensfehler vorliegen. Das Gericht darf jedoch nicht eigenes Ermessen anstelle des Verwaltungsermessens setzen. Stellt das Gericht einen Ermessensfehler fest, so hebt es den angefochtenen Verwaltungsakt auf. Bei der Verpflichtungsklage kann das Gericht gemäß § 131 Abs. 2 im Urteil den Sozialleistungsträger verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (Bescheidungsurteil).
2.3.2.1 Ermessensbegriff
Rz. 28
Der Ermessensbegriff ist in § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG und in § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I nahezu wortgleich geregelt. Danach ist dem Sozialleistungsträger Ermessen nur dann eingeräumt, wenn dies in der jeweiligen materiell-rechtlichen Norm ausdrücklich vorgesehen ist (Kann- oder Soll-Vorschrift). Die Entscheidung steht dann im Ermessen des Sozialleistungsträgers, wenn ihm durch das Gesetz die Freiheit eingeräumt wird, zwischen mehreren, vom Gesetzgeber als rechtmäßig angesehenen Entscheidungen zu wählen. Die Ermessensausübung schließt an das Vorliegen der im Gesetzestatbestand benannten Voraussetzungen an. Ermessensausübung findet mithin auf der Rechtsfolgenseite statt.
Rz. 29
Ordnungsgemäße Ermessensausübung setzt immer voraus, dass der Sozialleistungsträger den Sachverhalt vollständig ermittelt und seiner Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat. Ist er hingegen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, so ist die darauf beruhende Ermessensentscheidung zwangsläufig fehlerhaft, soweit nicht ausnahmsweise Ermessensreduzierung vorliegt.
Rz. 30
Der Sozialleistungsträger ist in der Ermessensausübung nicht etwa frei. Dies stellt § 54 Abs. 2 Satz 2 klar. Danach sind die Grenzen des Ermessens zu beachten. Als Ermessensgrenzen sind insbesondere der Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und das Gebot des § 2 SGB I zur Beachtung der sozialen Rechte zu nennen. Gemäß § 33 SGB I sind bei der Ausgestaltung der sozialen Rechte und Pflichten nach Art und Umfang die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten oder Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, wenn sie angemessen sind. Weitere Ermessensgrenzen können sich aus Verwaltungsvorschriften ergeben. In diesem Fall ist von Ermessensbindung oder auch Selbstbindung die Rede. Der Ermessensspielraum wird ferner durch den Zweck der Ermächtigung bestimmt. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I besteht ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens.
Rz. 31
Bei der Ermessensausübung hat der Sozialleistungsträger immer den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Danach ist zu prüfen, ob die beabsichtigte Entscheidung geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das in der Ermächtigungsgrundlage vorgesehene Ziel zu erreichen.
Rz. 32
Es besteht kein Ermessensspielraum, wenn im Gesetz ein unbestimmter Rechtsbegriff normiert ist. Dabei handelt es sich um Begriffe, deren Inhalt durch Auslegung (Interpretation) und Anwendung im konkreten Fall (Subsumtion) zu ermitteln ist. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind z. B. die in den Generalklauseln des Privatrechts und des öffentlichen Rechts verwendeten Begriffe wie Treu und Glauben, Gemeinwohl, öffentliches Interesse, Zuverlässigkeit, Eignung. Als spezifisch sozialrechtliche Rechtsbegriffe sind Bedürftigkeit, öffentliches ...