Rz. 85
Ein Richter ist zu unvoreingenommener und neutraler Amtsführung verpflichtet. Als Ablehnungsgründe kommen daher Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgebot sowie alle Fälle unsachlicher, auf Voreingenommenheit oder Willkür hindeutende Verhaltensweisen des Richters im laufenden Verfahren in Frage. Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage alleine sind kein Befangenheitsgrund (BVerfG, Beschluss v. 19.4.2010, 1 BvR 626/10; Beschluss v. 10.5.2000, 1 BvR 539/96). Auch die Teilnahme an Seminaren oder Tagungen zu aktuellen Rechtsfragen stellt grundsätzlich keinen Befangenheitsgrund dar. Die Teilnahme von Richtern an wissenschaftlichen Veranstaltungen ist üblich und allgemein bekannt. Sie dient der Darstellung und Vermittlung der Rechtsprechung der Gerichte und dem Austausch von Meinungen, auch in Bezug auf sich neu stellende Probleme und deren wissenschaftlichen Hintergrund. Ein solcher wissenschaftlicher Austausch ist insbesondere für ein oberstes Bundesgericht unverzichtbar. Daraus folgt, dass die Teilnahme von Richtern an solchen Tagungen und Seminaren und ihre dortigen Meinungsbekundungen grundsätzlich nicht geeignet sind, ihre Befangenheit zu begründen (so BGH, Beschluss v. 25.5.2016, III ZR 140/15; Beschluss v. 13.1.2016, VII ZR 36/14). Für die Instanzgerichte gilt nichts anderes.
Rz. 86
Wissenschaftliche Äußerungen zu einer verfahrensrelevanten Rechtsfrage, die nicht zum Ausschluss vom Richteramt führen, können für sich genommen und ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine Besorgnis der Befangenheit des Richters begründen (BVerfG, Beschluss v. 11.10.2011, 2 BvR 1010/10). Zweifel an der Objektivität können allerdings berechtigt sein, wenn sich aufdrängt, dass ein innerer Zusammenhang zwischen einer vom Richter mit Engagement geäußerten politischen Überzeugung und seiner Rechtsauffassung besteht (BVerfG, Beschluss v. 24.2.2000, 2 BvR 2352/99; Beschluss v. 12.7.1986, 1 BvR 713/83; Beschluss v. 16.6.1973, 2 BvF 1/73) oder wenn Forderungen des Richters nach einer Rechtsänderung in einer konkreten Beziehung zu einem bei ihm anhängigen Verfahren stehen (BVerfG, Beschluss v. 1.10.1986, 2 BvR 508/86). Rechtlich erhebliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters können auch dann aufkommen, wenn dessen wissenschaftliche Tätigkeit vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung eines am Verfahren Beteiligten bezweckte (BVerfG, Beschluss v. 26.5.1998, 1 BvL 11/94) oder der Richter eine von seiner eigenen abweichenden Rechtsauffassung deutlich abwertend beurteilt hat (BVerfG, Beschluss v. 16.6.1973, 2 BvF 1/73). Dasselbe kann bei sonstigen Äußerungen gelten, in denen die Umstände den Eindruck nahelegen, der Richter lasse sich für die Zwecke eines der Verfahrensbeteiligten vereinnahmen (BVerfG, Beschluss v. 11.10.2011, 2 BvR 1010/10). Maßgebend ist immer der Einzelfall.
Rz. 87
Allein der Umstand, dass ein Richter eine bestimmte Rechtsauffassung in einem Kommentar oder einer Fachzeitschrift äußert, rechtfertigt sonach kein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit (BSG, Beschluss v. 1.3.1993, 12 RK 45/92; vgl. zur Äußerung auf einer Richtertagung BSG, Beschluss v. 18.7.2007, B 13 R 28/06 R; OLG Brandenburg, Beschluss v. 30.12.2004, 11 W 93/04). Erst wenn die Nähe der Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassung nicht zu übersehen ist und die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckt, kann Anlass zu Zweifeln an der richterlichen Unvoreingenommenheit bestehen (BVerfG, Beschluss v. 11.10.2011, 2 BvR 1010/10; Beschluss v. 17.9.2003, 1 BvL 3/98, 1 BvL 9/02, 1 BvL 2/03; Beschluss v. 10.5.2000, 1 BvR 539/96; Beschluss v. 26.5.1998, 1 BvL 11/94). Entsprechendes kann gelten, wenn besondere Umstände hinzutreten, z. B. Sturheit und Unbelehrbarkeit (KG Berlin, Beschluss v. 7.7.2010, 20 SchH 2/10).
Rz. 88
Richterliche Hinweise und Aufklärungsschreiben sind ureigenste Aufgabe des Richters. Sie rechtfertigen grundsätzlich keine Befangenheitsablehnung (vgl. BVerwG, Beschluss v. 10.10.2017, 9 A 16/16; Beschluss v. 8.9.2010, 8 B 54/10, 8 B 54/10). Es kann grundsätzlich nicht als einseitige Parteinahme angesehen werden, wenn ein Richter im Rahmen des durch § 106 vorgesehenen Rechtsgesprächs mit den Beteiligten eine bestimmte Auffassung äußert (hierzu BFH, Beschluss v. 13.1.1987, IX B 12/84 zu § 93 FGO). Vielmehr gilt: Gelangt ein Richter zu der Auffassung, dass ein Verfahrensstand erreicht ist, der Rückschluss auf das jeweilige Begehren zulässt, ist er nicht nur berechtigt, sondern kann wegen § 106 Abs. 1 und 2 i. d. R. auch gehalten sein, dies den Beteiligten mitzuteilen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 5.10.2011, L 11 SF 312/11 AB; vgl. Rz. 90, 91). Dies gilt auch dann, wenn hierdurch die Prozesschancen einer Partei verringert werden. Jedoch darf sich das Gericht nicht durch Empfehlungen zur Fehlerbehebung zum Berater der Behörde machen (BVerwG, Beschluss v. 10.10.2017, 9 A 16/...