Rz. 23

Bei einem Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage selbst zu äußern (BSG, Beschluss v. 26.5.2014, B 12 KR 67/13 B; Beschluss v. 7.7.2011, B 14 AS 35/11 B; Beschluss v. 30.6.2009, B 2 U 130/08 B; Beschluss v. 26.6.2007, B 2 U 55/07 B, SozR 4-1750 § 227 Nr. 1). Vor allem in der mündlichen Verhandlung, dem Kernstück des gerichtlichen Verfahrens (BSG, Beschluss v. 19.10.2016, B 14 AS 149/16 B; Beschluss v. 8.9.2015, B 1 KR 134/14 B;Urteil v. 22.9.1977,10 RV 79/76, SozR 1500 § 124 Nr. 2) müssen sich die Beteiligten zum gesamten Streitstoff äußern können (BSG, Beschluss v. 16.12.2010, B 8 SO 12/10 B; vgl. BSG, Urteil v. 19.3.1991, 2 RU 28/90, SozR 3-1500 § 62 Nr. 5, und v. 22.8.2000, B 2 U 15/00 R, SozR 3-1500 § 128 Nr. 14). Nicht erforderlich ist, dass sie diese Möglichkeit tatsächlich nutzen. Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör i. d. R. dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs. 1 Satz 1 SGG), die Beteiligten ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist dann ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (BSG, Beschluss v. 26.5.2014, B 12 KR 67/13 B; Beschluss v. 7.7.2011, B 14 AS 35/11 B).

 

Rz. 24

Die Anordnung des persönlichen Erscheinens (§ 111 Abs. 1 SGG) steht im Ermessen des Gerichts (bzw. des Vorsitzenden) und dient vorrangig der Sachaufklärung. Die Anordnung hat nicht die Funktion, das rechtliche Gehör der Beteiligten sicherzustellen. Aus der Anordnung des persönlichen Erscheinens kann nicht darauf geschlossen werden, dass ohne das Erscheinen der Beteiligten keine Sachentscheidung des Gerichts ergehen könnte oder dürfte. Dennoch bedeuet dies nicht, dass das Gericht, wenn es das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zu einem Termin angeordnet hat und dieser nicht erscheint, in diesem Termin "ohne Weiteres" in der Sache entscheiden darf (BSG, Beschlus v. 31.1.2008, B 2 U 311/07 B). Hat das LSG in der mündlichen Verhandlung ausweislich die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers aufgehoben, nachdem es nach Befragung der Terminsvertreterin der Beklagten durch Hinweis des Vorsitzenden zu Protokoll festgestellt hatte, dass die nach seiner Rechtsauffassung notwendigen weiteren Angaben nunmehr vorlägen, kann es entscheiden, obgleich der Kläger nicht erscheinen ist (BSG, Beschluss v. 26.5.2014, B 12 KR 67/13 B).

 

Rz. 25

Ist im Ladungsschreiben zur mündlichen Verhandlung eine fehlerhafte Uhrzeit als Terminsbeginn genannt und der Kläger hierdurch an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehindert worden, so liegt ein Verfahrensfehler wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs vor (BSG, Beschluss v. 7.10.2009, B 11 AL 95/09 B). Vor der Verhandlung ist die Sache nicht nur im Sitzungssaal, sondern auch im Warteraum aufzurufen. Das Gericht darf grundsätzlich davon ausgehen, dass die Beteiligten und ihre Vertreter pünktlich erscheinen. Ist aber bekannt, dass ein pünktliches Erscheinen unverschuldet nicht möglich ist, muss es einen angemessenen Zeitraum warten, ggf. die Streitsache vertagen.

 

Rz. 26

Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich auf alle erheblichen Tatsachen. Mit Blick auf Rechtsfragen ist dann Gericht nicht generell zu einer "Aufklärung" verpflichtet. Nach §§ 62, 112 Abs. 2 SGG, § 278 Abs. 3 ZPO besteht aber das Verbot der Überraschungsentscheidung (vgl. Rz. 23). Dieses Verbot soll verhindern, dass eine Entscheidung auf Gesichtspunkte gestützt wird, zu denen die Beteiligten nicht Stellung genommen haben, weil dazu aus ihrer Sicht keine Veranlassung bestand (BSG, Urteil v. 26.7.2016, B 4 AS 47/15 R). Dementsprechend kann die Entscheidung grundsätzlich nicht auf Gründe beruhen, die im Verfahren zu keinem Zeitpunkt erörtert worden sind. Eine Hinweispflicht besteht auch bei neuer Tatsachen- bzw. Beweiswürdigung, mit der bisher nicht zu rechnen war (vgl. BSG, Urteil v. 12.12.1990, 11 RAr 137/89, SozR 3-1500 § 62 Nr. 2; BSG, Urteil v. 15.10.1986, 5b RJ 24/86, SozR 1500 § 62 Nr. 20). Nach der Rechtsprechung des BSG gibt es aber keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG, Beschluss v. 17.8.2011, B 6 KA 18/11 B; Beschluss v. 21.6.2000, B 5 RJ 24/00 B, SozR 3-1500 § 112 Nr. 2). Ebenso wenig besteht die Pflicht des Gerichts, die Beteiligten auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hinzuweisen und seine Rechtsauffass...

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