Rz. 26
Ist eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder ist sie unrichtig erteilt, läuft statt der Rechtsbehelfsfrist die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 HS 1 (hierzu BSG, Beschluss v. 21.6.2011, B 4 AS 32/11 B). Innerhalb der Jahresfrist kann allerdings im Verwaltungsverfahren eine richtige Rechtsbehelfsbelehrung nachgeschoben und damit der Mechanismus des § 66 Abs. 1 in Gang gesetzt werden (BSG, Urteil v. 28.5.1991, 13/5 RJ 48/90, SozR 3-1500 § 66 Nr. 1). Im gerichtlichen Verfahren bedarf es hierzu einer Berichtigung oder einer Neuzustellung der Entscheidung, weil die Rechtsbehelfsbelehrung Bestandteil der Entscheidung ist (Keller, SGG, § 66 Rn. 12b). Die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung hat keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung. Eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung eröffnet daher nicht die Zulassung der Berufung, sondern bewirkt lediglich, dass die Nichtzulassungsbeschwerde noch binnen Jahresfrist eingelegt werden kann (LSG NRW Urteil v. 14.2.2007, L 12 SO 10/06).
Rz. 27
Bei der Jahresfrist handelt es sich um eine Ausschlussfrist, innerhalb derer der Rechtsbehelfsführer alles getan haben muss, was für die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs notwendig ist (vgl. BSG, Beschluss v. 22.8.1995, 5 BJ 50/95, SozR 3-1500 § 66 Nr. 5). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist – abgesehen von Fällen höherer Gewalt – nicht möglich.
Rz. 28
Die Frist läuft ab Zustellung oder anderweitiger Bekanntgabe. Eine behördliche Regelung mit Außenwirkung i. S. d. § 31 Satz 1 SGB X kann auch gegenüber mehreren Personen gleichzeitig erfolgen. Hierfür reicht es aus, wenn ein Bescheid ausdrücklich nur an den eigentlichen Adressaten gerichtet, sein Regelungsinhalt aber zugleich einem davon Betroffenen (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 1, § 39 Abs. 1 SGB X) in der Absicht zugeleitet wird, dass auch dieser davon Kenntnis nimmt; die Übermittlung einer Kopie an diesen genügt, die Übergabe einer förmlichen Ausfertigung des Bescheides ist nicht erforderlich (BSG, Urteil v. 21.7.1988, 7 RAr 51/86, SozR 1200 § 54 Nr. 13). Es läuft dann die Jahresfrist (BSG, Urteil v. 17.9.2008, B 6 KA 28/07 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 17). Keinesfalls läuft die Jahresfrist schon dann, wenn der Verwaltungsakt dem originären Adressaten bekanntgegeben worden ist, denn es ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, jemanden des Anfechtungsrechts verlustig zu erklären, der nicht weiß, dass er von einem VA betroffen ist (zutreffend Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 66 Anm. 5 a).
Rz. 29
Die Berechnung der Frist richtet sich nach § 64 SGG. Erfolgt keine Bekanntgabe oder eine falsche Belehrung dahingehend, dass kein Rechtsbehelf gegeben sei, läuft die Frist nicht.
Rz. 30
Im Einzelfall kann es dem Kläger verwehrt sein, sich auf die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 zu berufen. Verwirkung (§ 242 BGB) tritt i. d. R. nicht vor Ablauf der Jahresfrist ein (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 74 Rn 20). Das Klagerecht kann vor Ablauf der Jahresfrist verwirkt sein. Voraussetzung hierfür ist, dass der Beteiligte, der das Klagerecht hat, nicht nur passiv abgewartet, sondern konkreten Anlass zu der Annahme gegeben hat, er werde keinen Rechtsbehelf einlegen (LSG Baden-Württemberg,, Urteil v. 5.4.2011, L 11 KR 658/09; hierzu Rieker, jurisPR-SozR 16/2011 Anm. 4; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 17.2.2011, L 5 KR 9/10, Breithaupt 2011 S. 682; vgl. auch Zeihe, SGG, § 66 Rn. 5). Losgelöst hiervon kann sehr spätes Einlegen eines Rechtsbehelfs sich als missbräuchlich darstellen (vgl. Keller, SGG, § 66, Rn. 13a).
Rz. 31
Beispiel:
Hat der Kläger eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung erhalten, weil er entgegen der Entscheidung des LSG die Berufungssumme gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG überschritten hat, so gilt für die Einlegung der Berufung grundsätzlich die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG (BSG, Beschluss v. 21.6.2011, B 4 AS 32/11 B). Enthält ein Urteil im Hinblick auf dessen Zustellung im Ausland (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG) eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung, so gilt für die Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde die Jahresfrist (BSG, Beschluss v. 15.6.2010, B 13 R 172/10 B, SozR 4-1500 § 73 Nr 7 mit Anm. Keller, jurisPR-SozR 23/2010 Anm. 5).