1 Allgemeines

 

Rz. 1

Die bis zum 31.12.1975 gültige Fassung des § 72 Abs. 2 beruhte im Wesentlichen auf §§ 1546 Abs. 1, 1613 Abs. 6, 1650 Abs. 3, 1658 Abs. 2 RVO. Infolge des Inkrafttretens des Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - v. 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015) zum 1.1.1976 war diese Fassung namentlich mit Blick auf § 36 Abs. 1 SGB-AT (Handlungsfähigkeit) überholt; sie musste angepasst werden. Deswegen wurde § 71 Abs. 2 Satz 1 durch Art. II § 16 des SGB-AT m. W. v. 1.1.1976 neu gefasst und § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO angeglichen. § 71 Abs. 3 hat seine Fassung durch Art. 12 Nr. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts v. 12.12.2007 (BGBl. I S. 2840) m. W. v. 1.7.2008 erhalten; der Satzteil "oder besonders Beauftragte" wurde gestrichen. § 71 Abs. 4 wurde durch Art. 2 Nr. 4 GKAR eingefügt und hat die jetzige Fassung durch Art. 1 Nr. 28 Buchst. a nach Maßgabe von Art. 17 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) v. 17.8.2011 (BGBl. I S. 2144) erhalten. § 71 Abs. 5 beruht auf Art. 1 Nr. 28 Buchst. b i. V. m. Art. 17 des 6. SGGÄndG. Mittels des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 3057, 3064) sind in § 71 Abs. 5 die Wörter "durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten" durch die Wörter "nach Maßgabe des Landesrechts durch die Stelle vertreten, der dessen Aufgaben übertragen worden sind oder die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes oder des Rechts der Teilhabe behinderter Menschen zuständig ist" ersetzt worden.

2 Rechtspraxis

2.1 Begriffliches

 

Rz. 2

Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, einen Prozess selbst oder durch einen selbst bestellten Prozessbevollmächtigten zu führen sowie Prozesshandlungen selbst oder durch einen selbst bestellten Vertreter wirksam vorzunehmen und entgegen zu nehmen (LSG NRW, Urteil v. 25.3.2010, L 9 SO 7/09, juris). Die Prozessfähigkeit ist im SGG weiter gefasst als in der ZPO. § 71 Abs. 1 verweist zunächst auf die allgemeine Geschäftsfähigkeit, d. h. auf die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte selbständig und wirksam vorzunehmen. Unbeschränkt geschäftsfähig sind grundsätzlich alle gemäß § 2 BGB volljährigen Personen. Sie sind nach § 104 Abs. 2 BGB geschäftsunfähig, wenn sie sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Die Anordnung einer Betreuung hat dann Auswirkungen auf die Prozessfähigkeit, wenn ein Einwilligungsvorbehalt gemäß § 1903 BGB angeordnet ist. Auch im Fall der Anordnung eines solchen Vorbehalts bedarf der Betreute dann nicht der Einwilligung des Betreuers, wenn die Willenserklärung ihm lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt (vgl. BSG, Beschluss v. 20.6.2006, B 9a SB 13/05 B, juris, zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G").

 

Rz. 3

Eine partielle Prozessunfähigkeit kann für einen bestimmten Prozessbereich oder Kreis von Geschäften, nicht aber für einzelne Prozesshandlungen bestehen (BSG, Beschluss v. 15.11.2000, B 13 RJ 53/00 B, SozR 3-1500 § 160a Nr. 32). Bei einer maßlosen Inanspruchnahme der Gerichte mit aussichtslosen Verfahren kann das Gericht von einer partiellen Geschäfts- und Prozessunfähigkeit des Klägers ausgehen, mit der Folge, dass die eingelegte Berufung als unzulässig zu verwerfen ist (LSG Hamburg, Urteil v. 10.12.2009, L 5 AS 6/09, juris; Urteil v. 14.10.2004, L 5 AL 57/04).

 

Rz. 4

Steht ein Hilfebedürftiger bezüglich der Vertretung vor Gerichten unter Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt, ist er wie ein partiell beschränkt Geschäftsfähiger zu behandeln und deswegen prozessunfähig (BGH, Beschluss v. 11.4.2002, BLw 33/01, EzFamR BGB § 1902 Nr. 3). Genehmigt der Betreuer die Einlegung der Berufung nicht, ist sie entsprechend § 182 Abs. 1 BGB unwirksam (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 8.7.2008, L 14 AS 182/06, juris).

2.2 Prozessuales

 

Rz. 5

Wie die Beteiligtenfähigkeit ist die Prozessfähigkeit Prozessvoraussetzung und stets von Amts wegen zu prüfen (§ 71 Abs. 6 i. V. m. § 56 Abs. 1 ZPO), und zwar in jeder Lage des Verfahrens und in jeder Instanz (vgl. BSG, Beschluss v. 30.9.2009, B 9 SB 10/09 B, juris).

 

Rz. 6

Die Entscheidung über die Prozessfähigkeit i. S. d. § 71 Abs. 1, an den § 72 Abs. 1 SGG mit der Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters anknüpft, obliegt der tatrichterlichen Würdigung. Bestehen Zweifel an der Prozessfähigkeit, muss das Gericht hierzu Beweis erheben. Dies wird im Regelfall durch Einholung eines Gutachtens erfolgen. Der im Streit um seine Prozessfähigkeit als prozessfähig anzusehende Beteiligte ist i. d. R. persönlich anzuhören, damit sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck verschaffen kann (vgl. BSG, Urteil v. 5.5.1993, 9/9a RVg 5/92, SozR 3-1500 § 71 Nr. 1; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 71 Rn. 8b; Zeihe, SGG, 6. Aufl., 11/2010, § 71 Rn. 3a). Eine Anhörung ist entbehrlich, wenn der Prozessunfähige selbst Verfahrenshandlungen nicht vorgenommen hat (BSG, Ur...

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