1 Sinn und Zweck des Vorverfahrens

 

Rz. 1

Die Vorschriften in §§ 78 bis 86 regeln das Vorverfahren, das auch in der VwGO (§§ 68 ff. VwGO) und in der Finanzgerichtsbarkeit (§§ 44 ff. FGO) sowie in §§ 347 bis 368 AO vorgesehen ist. Es ist ein besonderes Verwaltungsverfahren, das sich an das auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtete Verwaltungsverfahren anschließt. Dementsprechend findet das SGB X Anwendung, soweit sich keine ausdrücklichen Regelungen im SGG finden, § 62 SGB X. Das Widerspruchsverfahren hat mehrere Zweckrichtungen. Zum einen dient es der Selbstkontrolle der Verwaltung, die die Möglichkeit erhält, Fehler selbst zu korrigieren. Bei Versicherungsträgern erfolgt wegen der besonderen Besetzung der Widerspruchsstellen auch eine Kontrolle der Verwaltung durch die ehrenamtliche Selbstverwaltung (Bley, Anm. 2a vor § 77). Zum anderen wird der Rechtsschutz des Bürgers verbessert, indem eine weitere Kontrollinstanz gewährt wird. Schließlich entlastet das Vorverfahren durch die damit gewährleistete Vorprüfung durch die Verwaltung die Gerichte (zur Zweckrichtung insgesamt vgl. BSG, SozR 3-1500 § 78 Nr. 3 m. w. N.). Wegen der objektiven Funktion des Vorverfahrens und seiner förmlichen Ausgestaltung im SGG kann der Widerspruchsbescheid regelmäßig nicht durch eine sachliche, auf Abweisung der Klage oder Zurückweisung der Berufung gerichtete Einlassung der für den Widerspruch zuständigen Behörde ersetzt werden (BSG, Urteil v. 24.4.2007, B 12 AL 2/06 R, SGb 2007 S. 353). Im Vorverfahren werden Rechtmäßigkeit und bei Ermessensentscheidungen Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsakts in vollem Umfang überprüft. Die Vorschriften über das Vorverfahren sind nicht disponibel (BSGE 8 S. 3, 9). Erlässt die Behörde keinen Widerspruchsbescheid, kann gemäß § 88 Abs. 2 Untätigkeitsklage erhoben werden. Wird in einem Widerspruchsbescheid über einen streitigen Teil nicht entschieden, so stellt die hiergegen erhobene Klage u. U. zugleich eine Untätigkeitsklage dar (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 30.8.2010, L 18 AS 1472/10 B PKH, juris; zur Zulässigkeit dieser Untätigkeitsklage: LSG NRW, Beschluss v. 14.7.2010, L 7 AS 51/10 B, juris).

2 Vorverfahren als Prozessvoraussetzung

 

Rz. 2

Eines Vorverfahrens bedarf es stets vor der Erhebung der Anfechtungsklage sowie der Verpflichtungsklage, und zwar auch dann, wenn sie mit einer anderen Klage verbunden ist (vgl. BSGE 3 S. 293, 296, 297). Entbehrlich ist das Vorverfahren bei einer – praktisch seltenen – reinen Leistungsklage oder Feststellungsklage, nicht hingegen bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 nach Erledigung eines Verwaltungsaktes (str., vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 78 Rn. 8a). Der Abschluss des Vorverfahrens ist bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen eine unverzichtbare Sachurteilsvoraussetzung (BSG, SozR 3-1500 § 78 Nr. 5, 3), die in jedem Stadium des Verfahrens zu prüfen ist. Das gilt auch in den Fällen der Klageänderung, auch einer solchen durch Beteiligtenwechsel auf der Kläger- oder Beklagtenseite, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt den Widerspruchsführer und einen Dritten in gleicher Weise beschwert, jedoch nur der am Vorverfahren beteiligte Dritte klagt (vgl. BSG, SozR 4-2500 § 18 Nr. 5 für die Klage eines Familienversicherten, wenn der Widerspruchsbescheid nur gegenüber dem Stammversicherten ergangen ist).

 

Rz. 3

Ist das Vorverfahren bei Klageerhebung noch nicht durchgeführt worden, führt das im Regelfall nicht zur Abweisung einer Klage als unzulässig. Das Gericht muss vielmehr die Möglichkeit geben, das Vorverfahren nachzuholen und muss das Gerichtsverfahren analog § 114 Abs. 2 aussetzen (BSG, SozR 3-1500 § 78 Nr. 5; a. A. SG Stuttgart, Gerichtsbescheid v. 9.5.2011, S 20 SO 1922/11, juris; das Aussetzungserfordernis gilt ausnahmsweise nicht, wenn der Kläger auf einer sofortigen Entscheidung beharrt, LSG NRW, Beschluss v. 11.3.2010. L 9 SO 44/09, juris). Hat das Sozialgericht die Klage mangels Vorverfahren als unzulässig abgewiesen und erteilt die Behörde im Berufungsverfahren den Widerspruchsbescheid, so wird die ursprünglich unzulässige Klage zulässig (LSG NRW, Urteil v. 29.10.2009, L 2 KN 130/07 KR).

Der im Klageverfahren ergehende Widerspruchsbescheid wird gemäß § 96 Gegenstand des laufenden Verfahrens. Diese Verfahrensweise dient der Prozessökonomie, indem ein zweiter Prozess vermieden wird (kritisch: Zeihe, § 78 Rn. 6c). Weigert sich der Beklagte, das erforderliche Vorverfahren durchzuführen, kann das Prozessgericht eine entsprechende Verpflichtung in einem Zwischenurteil gemäß § 202 SGG i. V. m. § 303 ZPO aussprechen (BSG, SozR 1500 § 78 Nr. 16; BSG, SozR 3-5540 Anlage 1 § 10 Nr. 1; ablehnend: Zeihe, § 78 Rn. 6c). Wenn der Mangel der fehlenden Durchführung des Widerspruchsverfahrens erst im Revisionsverfahren erkannt wird, verweist das BSG den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 an das LSG zurück, um den Beteiligten Gelegenheit zur Durchführung des Vorverfahrens zu geben (BSG, SozR 3-5540 Anlage 1 § 10 Nr. 1). Fehlt es bereits an einer Ausgangsentscheidung der Verwaltung, so kommt eine...

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