Rz. 8
Die Widerspruchsstelle prüft zunächst die Einhaltung der Form- und Fristvorschriften. Liegen die formellen Voraussetzungen nicht vor und werden im Fall der Fristversäumnis auch keine Wiedereinsetzungsgründe vorgetragen, kann der Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen werden. Die Widerspruchsbehörde kann aber auch trotz Unzulässigkeit des Widerspruchs eine Sachprüfung durchführen (vgl. BSGE 49 S. 85, 87 ff.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 85 Rn. 4; a. A. Zeihe, § 85 Rn. 6b). Ergeht eine Sachentscheidung, sind damit formelle Mängel geheilt.
Rz. 9
Bei einem zulässigen Widerspruch erfolgt eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit, bei Ermessensentscheidungen auch der Zweckmäßigkeit. Die Entscheidungsfreiheit der Widerspruchsstelle ist im Regelfall nicht geringer als die der Erstbehörde (BSG, SozR 3-1500 § 85 Nr. 1). Die Widerspruchsstelle kann auch den Ausgangsverwaltungsakt mit einer anderen Begründung bestätigen. Sie kann sich auch auf andere Ermessenserwägungen stützen als die Ausgangsbehörde. Sie ist nicht wie das Gericht auf die Überprüfung von Ermessensfehlern beschränkt. Dem Widerspruchsführer ist es auch nicht verwehrt, neue Tatsachen vorzutragen, allerdings nur soweit sie sein bisheriges Begehren stützen. Mangels funktioneller und sachlicher Zuständigkeit kann die Widerspruchsstelle in aller Regel keine erstmaligen Sachentscheidungen treffen (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 87 Nr. 1). In die Entscheidung einzubeziehen hat die Widerspruchsstelle nach § 86 abändernde Bescheide.
Rz. 10
Eine reformatio in peius, d. h. eine Veränderung der mit dem Widerspruch angegriffenen Verwaltungsentscheidung im Widerspruchsverfahren zuungunsten des Widerspruchsführers ist nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 45 SGB X für die Rücknahme des Verwaltungsakts vorliegen (Verböserungsverbot, vgl. BSG, SozR 3-1500 § 85 Nr. 1 mit Darstellung des Meinungsstands; ausführlich Köhler, Die reformatio in peius im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren – unter besonderer Berücksichtigung des Anhörungsgebots, ZFSH/SGB 2010, 78). Der Widerspruchsführer genießt hinsichtlich der durch den Verwaltungsakt getroffenen begünstigenden Regelung, die mit dem Widerspruch nicht angegriffen wurde, grundsätzlich Vertrauensschutz. Soweit die §§ 44 ff. SGB X aber eine Durchbrechung der Bindungswirkung eines Verwaltungsakts zulassen, beanspruchen sie auch im Widerspruchsverfahren Geltung. Es sind dann allerdings die für die Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts in § 45 Abs. 2 SGB X normierten Vertrauensschutzgesichtspunkte ohne Einschränkung zu prüfen (BSG, a. a. O.). Eine Verböserung ist auch möglich, wenn ein Dritter Widerspruch eingelegt hat (vgl. BSG, USK 7942 S. 171 f., wo die Frage allerdings nicht abschließend entschieden wird). Vor einer Verschlechterung des angefochtenen Bescheides ist der Widerspruchsführer gemäß § 24 SGB X anzuhören.