Rz. 82
Bei Eingriffen in die Berufsfreiheit müssen die Gründe für den Sofortvollzug in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 28.8.2007, 1 BvR 2157/07, DVBl 2008 S. 336: Ruhen der Approbation; Beschluss v. 11.2.2005, 1 BvR 276/05, NJW 2005 S. 1418: Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft; BVerfG, Beschluss v. 13.8.2003, 1 BvR 1594/03, NJW 2003 S. 3617: Widerruf der Approbation; BVerfG, Beschluss v. 12.3.2004, 1 BvR 540/04, NVwZ-RR 2004 S. 545: Ruhen der Approbation). Die Garantie effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. BVerfG, Beschluss v. 16.5.1995, 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93 S. 1, 13) soll irreparable Entscheidungen, etwa infolge Sofortvollzugs einer hoheitlichen Maßnahme, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 19.6.1973, 1 BvL 39/69, BVerfGE 35 S. 263, 274). Der Rechtsschutzanspruch darf gegenüber dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug einer Maßnahme umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfG, Beschluss v. 27.10.2009, 1 BvR 1876/09, NVwZ-RR 2010 S. 109; Beschluss v. 18.7.1973, 1 BvR 23/73, BVerfGE 35 S. 382, 402).
Rz. 83
Approbation und Zulassung sind eng verknüpft. Eine uneingeschränkte Approbation ist nach § 95 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 i. V. m. § 95a Abs. 1 Nr. 1 SGB V Voraussetzung für eine Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung. Ihr Wegfall rechtfertigt nach § 95 Abs. 6 Satz 1 SGB V die Entziehung der Zulassung (BSG, Beschluss v. 17.8.2011, B 6 KA 18/11 B, GesR 2011 S. 682). Insofern führt neben der Rechtsprechung des BSG zu Fragen der Zulassungsentziehung auch die Rechtsprechung des BVerfG zu Berufsverboten und Approbationsentziehungen sowie zu den rechts- und steuerberatenden Berufen weiter (z. B. BVerfG, Beschluss v. 4.3.1997, 1 BvR 327/97, Pharma Recht 1997 S. 298: Apotheker; Beschluss v. 13.8.2003, 1 BvR 1594/03, NJW 2003 S. 3617: Approbation; vgl. Kleine-Cosack, NJW 2004 S. 2473, 2478).
Rz. 84
Da die sofortige Vollziehung einer Zulassungsentziehung angesichts des hohen Anteils gesetzlich Versicherter einem vorläufigen Berufsverbot gleichkommt, kann der Rechtsschutzanspruch des Vertragsarztes gegen den Verwaltungsakt nur einstweilen zurückgestellt werden, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 11.1.2011, L 5 KA 3990/10 ER-B, GuP 2011 S. 40). In Fällen von Zulassungsentziehungen sind daher besonders hohe Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu stellen. Die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit derartiger Eingriffe vor Bestands- oder Rechtskraft verlangt zwei Schritte, nämlich
- summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung des Verwaltungsaktes
und
- Klärung, ob und inwieweit der präventive Sofortvollzugs erforderlich ist.
Rz. 85
Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Vertragsarztes ausgehen wird, genügt für sich allein nicht (BVerfG, Beschluss v. 8.4.2010,1 BvR 2709/09, NJW 2010 S. 2268; Beschluss v. 8.11.2010, 1 BvR 722/10, NJW 2010 S. 2268; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 19.12.2007, 1 BvR 2157/07, NJW 2008 S. 1369; Beschluss v. 12.3.2004, 1 BvR 540/04, GesR 2004 S. 333; Beschluss v. 16.1.1991, 1 BvR 1326/90, NJW 1991 S. 1530: OVG Münster, Beschluss v. 3.2.2004, 13 B 2369/03, MedR 2004 S. 327; LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 11.1.2011, L 5 KA 3990/10 ER-B, GuP 2011 S. 40; Kleine-Cosack, NJW 2004 S. 2473, 2479). Das wiederum bedeutet, dass der Sofortvollzug als selbstständiger Eingriff den strengen Anforderungen genügen muss, die nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG an einen präventiven Eingriff in die Berufsfreiheit schon vor Rechtskraft des Hauptverfahrens zu stellen sind. Hiernach können überwiegende Belange es ausnahmsweise rechtfertigen, den Schutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug eines Berufsverbots sind hierfür jedoch nur solche Gründe ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und die ein Zuwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschließen (BVerfG, Beschluss v. 13.8.2003, 1 BvR 1594/03, NJW 2003 S. 3617; LSG NRW, Beschluss v. 3.5.2010, L 11 B 23/09 KA ER).
Rz. 86
Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (BVerfG, Beschluss v. 2.3.1977, 1 BvR 124/76, 2.3.1977, NJW 1977 S. 892: Berufsverbot für Rechtsanwalt; BVerwG, Urteil v. 26.9.2002, 3 C 37/01 NJW 2003 S. 913: Approbationsentzug Apotheker; LSG NRW, Beschluss v. 3.5.2010, L 11 B 23/09 K...