2.3.1 Einführung

 

Rz. 89

§ 86a Abs. 3 bestimmt, dass die den Verwaltungsakt erlassende oder über den Widerspruch entscheidende Stelle die sofortige Vollziehung in den Fällen des Abs. 2 auch ganz oder teilweise aussetzen kann. Im Gesetzgebungsverfahren wurde hierzu formuliert, es sei sachgerecht, der erlassenden Behörde, die im Fall des Widerspruchs über die Abhilfe entscheiden müsse, bei zweifelhafter Rechtslage zu ermöglichen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder herzustellen (BR-Drs. 132/01 S. 52). Vom Zeitpunkt der Widerspruchseinlegung an bis zur Entscheidung über den Widerspruch ist die Widerspruchsbehörde ebenfalls zuständig. Anschließend kann die Ausgangsbehörde auch noch während des Rechtsstreits zur Anfechtungsklage bis zum Eintritt der Bestandskraft die Vollziehung aussetzen.

2.3.2 Vollziehungsaussetzung (Abs. 3 Satz 1)

 

Rz. 90

Hiernach kann die Behörde die Kraft Gesetzes eintretende sofortige Vollziehung (§ 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4) oder die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung (§ 86a Abs. 2 Nr. 5) aussetzen. Die Entscheidung über die Aussetzung ist eine Ermessensentscheidung (Zeihe, SGG, § 86a Rn. 30c; Kummer, SGb 2001 S. 705, 713). Ebenso wie bei der Entscheidung nach Abs. 2 Nr. 5 ist auch hier eine Interessenabwägung durchzuführen. Das öffentliche Vollzugsinteresse und die dahinter stehenden Interessen der Versichertengemeinschaft der Sozialversicherten auf der einen und das Suspensivinteresse des Betroffenen auf der anderen Seite sind dabei zu berücksichtigen.

Das Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen ist, wenn der Beteiligte sein Begehren erkennbar auch außergerichtlich durchsetzen kann oder der Versuch, eine Aussetzung durch die Behörde zu erreichen (§ 86a Abs. 3 Satz 1), nicht von vornherein aussichtslos erscheint (LSG NRW, Beschluss v. 3.2.2010, L 11 KA 80/09 ER; Beschluss v. 12.5.2010, L 11 KA 9/10 B ER, GesR 2010 S. 682). Ein solcher Antrag wäre auch noch nach Klageerhebung zulässig, denn ab diesem Zeitpunkt können sowohl die Verwaltung als auch das Gericht die sofortige Vollziehung anordnen (Keller, SGG, § 86a Rn. 21; a. A. LSG Sachsen, Beschluss v. 26.2.2004, L 3 B 18/04 AL-ER; vgl. hierzu die Kommentierung zu § 86b Rz. 6).

2.3.3 Vollziehungsaussetzung (Abs. 3 Satz 2)

 

Rz. 91

Diese Vorschrift entspricht § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Als Legitimation dieser Regelung wird dort unter anderem angesehen, dass Geldleistungen prinzipiell nachholbar sind und durch die Aussetzung typischerweise keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden (Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 115). Soweit § 86a Abs. 3 Satz 2 regelt, dass in den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 (Entscheidungen zur Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflicht) die Aussetzung erfolgen soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, mutet diese Vorgabe befremdlich an. Der Gesetzgeber bestimmt hier selbst die maßgebenden Kriterien für die Aussetzungsentscheidung der Behörde. Die Gesetzesbegründung verweist hierzu nur darauf, dass Absatz 3 Satz 2 entsprechend § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO eine Regelung ("Soll-Vorschrift") für die Aussetzung der Vollziehung in den Fällen des Absatz 2 Nr. 1 enthält (BR-Drs. 132/01 S. 52). Es liegt nahe, diese Kriterien auf die Aussetzungsentscheidung nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 SGG zu übertragen. Andererseits hat der Gesetzgeber die vorgenannten Fälle ausdrücklich nur auf Nr. 1 bezogen; dies spricht dafür, diese Kriterien in den Fällen der Nr. 2 bis 4 für nicht anwendbar zu halten. Damit dürfte aber die Absicht des Gesetzgebers überinterpretiert werden. In den Fällen der Nr. 2 bis 4 können diese Kriterien herangezogen werden, die Behörde ist indessen nicht gehindert, weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, um dann trotz der Kriterien des Absatzes 1 Satz 2 die Aussetzung abzulehnen (Frehse, in: Schnapp/Wigge, § 23 Rn. 105).

 

Rz. 92

Ernstliche Zweifel bestehen nicht bereits dann, wenn bloße Bedenken gegen die Gesetzeskonformität des Verwaltungsaktes bestehen und ein Erfolg des gegen ihn eingelegten Rechtsbehelfs möglich erscheint bzw. nach summarischer Prüfung der Erfolg des Rechtsmittels ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg, sondern erst wenn die Erfolgsaussichten überwiegen (LSG NRW, Beschluss v. 22.4.2009, L 8 B 2/09 LW ER; Keller, SGG, § 86a, Rn. 27; Zeihe, SGG, § 86a, Rn. 33). Ernstliche Zweifel bestehen sonach dann, wenn gewichtige Umstände gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides sprechen und der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (LSG Sachsen, Beschluss v. 7.11.2011, L 1 KR 173/10 B ER; Beschluss v. 4.10.2007, L 1 B 321/06 KR-ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 13.7.2011, L 22 LW 8/11 ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 18.9.2009, L 5 KR 159/09 B ER; Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 116). Dafür spricht die Erwägung, dass durch § 86a Abs. 2 Nr. 1 das Vollzugsrisiko bei Abgabebescheiden bewusst auf den Adressaten verlagert worden ist, um die notwendigen Einnahmen der Sozialversicherungsträger zur Erfüllung ihrer A...

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