Rz. 91
Diese Vorschrift entspricht § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Als Legitimation dieser Regelung wird dort unter anderem angesehen, dass Geldleistungen prinzipiell nachholbar sind und durch die Aussetzung typischerweise keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden (Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 115). Soweit § 86a Abs. 3 Satz 2 regelt, dass in den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 (Entscheidungen zur Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflicht) die Aussetzung erfolgen soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, mutet diese Vorgabe befremdlich an. Der Gesetzgeber bestimmt hier selbst die maßgebenden Kriterien für die Aussetzungsentscheidung der Behörde. Die Gesetzesbegründung verweist hierzu nur darauf, dass Absatz 3 Satz 2 entsprechend § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO eine Regelung ("Soll-Vorschrift") für die Aussetzung der Vollziehung in den Fällen des Absatz 2 Nr. 1 enthält (BR-Drs. 132/01 S. 52). Es liegt nahe, diese Kriterien auf die Aussetzungsentscheidung nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 SGG zu übertragen. Andererseits hat der Gesetzgeber die vorgenannten Fälle ausdrücklich nur auf Nr. 1 bezogen; dies spricht dafür, diese Kriterien in den Fällen der Nr. 2 bis 4 für nicht anwendbar zu halten. Damit dürfte aber die Absicht des Gesetzgebers überinterpretiert werden. In den Fällen der Nr. 2 bis 4 können diese Kriterien herangezogen werden, die Behörde ist indessen nicht gehindert, weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, um dann trotz der Kriterien des Absatzes 1 Satz 2 die Aussetzung abzulehnen (Frehse, in: Schnapp/Wigge, § 23 Rn. 105).
Rz. 92
Ernstliche Zweifel bestehen nicht bereits dann, wenn bloße Bedenken gegen die Gesetzeskonformität des Verwaltungsaktes bestehen und ein Erfolg des gegen ihn eingelegten Rechtsbehelfs möglich erscheint bzw. nach summarischer Prüfung der Erfolg des Rechtsmittels ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg, sondern erst wenn die Erfolgsaussichten überwiegen (LSG NRW, Beschluss v. 22.4.2009, L 8 B 2/09 LW ER; Keller, SGG, § 86a, Rn. 27; Zeihe, SGG, § 86a, Rn. 33). Ernstliche Zweifel bestehen sonach dann, wenn gewichtige Umstände gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides sprechen und der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (LSG Sachsen, Beschluss v. 7.11.2011, L 1 KR 173/10 B ER; Beschluss v. 4.10.2007, L 1 B 321/06 KR-ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 13.7.2011, L 22 LW 8/11 ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 18.9.2009, L 5 KR 159/09 B ER; Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 116). Dafür spricht die Erwägung, dass durch § 86a Abs. 2 Nr. 1 das Vollzugsrisiko bei Abgabebescheiden bewusst auf den Adressaten verlagert worden ist, um die notwendigen Einnahmen der Sozialversicherungsträger zur Erfüllung ihrer Aufgaben sicherzustellen. Diese gesetzliche Risikoverteilung würde unterlaufen, wenn bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens die Vollziehung ausgesetzt würde (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 9.12.2004, L 5 ER 95/04 KR). Verhielte es sich anders, wäre angesichts der vielfältigen Rechtsprobleme wie auch der Schwierigkeiten einer umfassenden Sachverhaltsklärung in Beitragsangelegenheiten eine Aussetzung der Vollziehung regelmäßig durchsetzbar, was die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung erheblich beeinträchtigen könnte (LSG NRW, Beschluss v. 18.12.2002, L 16 B 70/02 KR ER).
Rz. 93
Eine unbillige Härte liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die Vollziehung Nachteile entstehen, die über die eigentliche Leistung hinausgehen und nicht oder nur schwer wiedergutgemacht werden können (LSG NRW, Beschluss v. 22.4.2009, L 8 B 2/09 LW ER; Keller, SGG, § 86a, Rn. 27; Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 116), denn Nachteile, die mit dem Vollzug eines nicht rechtskräftigen Verwaltungsaktes allgemein verbunden sind, sind regelmäßig zumutbar. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen unbilliger Härte kommt allerdings nur in Betracht, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht ausgeschlossen werden können. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist eine unbillige Härte ausgeschlossen, denn die Vollziehung zur Verwirklichung eines vom Gesetz vorgeschriebenen Rechtszustandes bedeutet lediglich die Durchsetzung der Rechtspflichten, die jedem anderen Betroffenen in derselben Situation obliegen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.10.2008, L 24 B 373, 08 KR ER; BFH, Beschluss v. 2.11.2004, XI S 15/04; OVG Thüringen, Beschluss v. 1. 11.2005, 4 EO 871/05). Das Risiko, im Ergebnis zu Unrecht in Vorleistung treten zu müssen, trifft hiernach den Zahlungspflichtigen (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 22.6.2006, L 16 B 30/06 KR ER; vgl. aber LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 22.9.2006, L 1 B 76/06 KR ER).