Rz. 2
Nach Abs. 1 Nr. 1 kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Betroffen sind nach der Gesetzesbegründung auch Verwaltungsakte mit Drittwirkung (wie etwa Zulassungsbescheide im Vertragsarztrecht). Dort liegt der eigentliche Anwendungsbereich dieser Antragsart. Legt ein Drittbetroffener gegen einen begünstigenden Verwaltungsakt (z. B. Zulassungsbescheid) Widerspruch ein bzw. erhebt er gegen den Widerspruchsbescheid Klage, so hat dies aufschiebende Wirkung nach § 86a Abs. 1 zur Folge. Der dadurch benachteiligte Adressat kann nun die sofortige Vollziehung beantragen. Bei einem belastenden Verwaltungsakt mit begünstigender Drittwirkung kann der Dritte (Konkurrent, Wettbewerber) die aufschiebende Wirkung von Widerspruch bzw. Klage des Adressaten durch den Antrag zu beseitigen versuchen. Drittwirkung haben z. B. wegen der möglichen Auswirkung auf die Rentenhöhe Bescheide über Gewährung von Hinterbliebenenrente an den hinterbliebenen und früheren geschiedenen Ehegatten und zwar im Verhältnis sowohl zu dem hinterbliebenen als auch zu dem früheren geschiedenen Ehegatten (vgl. BSG, Urteil v. 23.6.1964, 11/1 RA 90/62, BSGE 21 S. 125), Gewährung von Hinterbliebenrenten an hinterbliebene Ehegatten aus einer Mehrehe, Bescheid über Vormerkung einer Kindererziehungszeit, wenn für miterziehenden Elternteil beantragt (BSG, Urteil v. 28.2.1991, 4 RA 76/90, FamRZ 1992 S. 805), gegenüber Krankenkassen und Krankenkassenverbänden Bescheide der Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse über Honorarkürzungen und Arzneimittelregresse wegen unwirtschaftlicher Behandlungs- und/oder Verordnungsweise und deren Ablehnung, Aufhebung und Minderung (vgl. BSG, Urteil v. 18.5.1983, 6 RKa 18/80, MedR 1984 S. 74). Hierzu rechnen schließlich wettbewerbswirksame Fallgestaltungen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 11.12.1990, 1 BvR 935/90, DVBl 1991 S. 309).
Rz. 3
Weitere Beispiele für Fallgestaltungen mit Drittbezug (hierzu auch Krodel, Eilverfahren, B Rn 169):
- Sonderbedarfszulassung nach § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V i. V. m. §§ 24-26 Bedarfsplanungsrichtlinie-Ärzte (LSG NRW, Beschluss v. 10.11.2010, L 11 KA 87/10 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 18.2.2009, L 3 KA 98/08 ER, GesR 2009 S. 542);
- Antrag eines MVZ auf Erteilung der Genehmigung der Anstellung des Oberarztes (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 12.7.2011, L 5 KA 19/11 B ER, GesR 2011 S. 684);
- Genehmigung einer fachärztlich Dialysezweigpraxis (LSG NRW, Beschluss v. 16.3.2011, L 11 KA 96/10 B ER, MedR 2011 S. 428);
- Genehmigung einer Zweigpraxis (LSG NRW, Beschluss v. 23.12.2010, L 11 KA 71/10 B ER; hierzu Bäune, jurisPR-MedizinR 7/2011 Anm. 4; Beschluss v. 17.5.2010, L 11 B 14/09 KA ER, MedR 2011 S. 187; Beschluss v. 3.2.2010, L 11 KA 80/09 ER);
- Verrechnung nach § 52 SGB I (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 14.2.2011, L 5 R 17/11 B ER);
- Bestimmung eines Krankenhauses zur ambulanten Behandlung von Katalogerkrankungen nach § 116b SGB V (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 1.11.2010, L 4 KR 468/10 B ER, GesR 2010 S. 683);
- Anordnung des Ruhens der vertragsärztlichen Zulassung (LSG Bayern, Beschluss v. 14.1.2010, L 12 KA 62/09 B ER);
- Ermächtigung eines Sozialpädiatrischen Zentrums nach § 119 SGB V (LSG NRW, Beschluss v. 2.4.2009, L 11 KA 2/09 ER, MedR 2009 S. 625);
- Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung durch Dialysebehandlung (LSG Hessen, Beschluss v. 26.4.2005, L 4 KA 13/05 ER);
- Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes (LSG NRW, Beschluss v. 12.5.2010, L 11 KA 9/10 B ER, GesR 2010 S. 682);
- Genehmigung zur Methadonsubstitution (LSG NRW, Beschluss v. 3.5.2010, L 11 B 23/09 KA ER);
- Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (LSG NRW, Beschluss v. 4.9.2006, L 10 B 2/06 KA ER, MedR 2007 S. 64).
Rz. 4
Für einen Antrag einer Behörde wird i. d. R. das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlen, weil sie die sofortige Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 anordnen kann. Die Anordnung setzt ebenso wie im Fall des § 86a Abs. 2 Nr. 5 ein Vollzugsinteresse voraus. Die den zu vollziehenden Verwaltungsakt erlassende Behörde kann jedoch die gerichtliche Anordnung seiner sofortigen Vollziehung nicht verlangen, weil sie diese Anordnung nach § 86a Abs. 1 Nr. 5 selbst treffen und in einem Fall des § 86a Abs. 3 Satz 1 u. Abs. 4 Satz 2 die von ihr verfügte Aussetzung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 3 Satz 5 und Abs. 4 Satz 2 jederzeit wieder selbst aufheben kann (Peters/Sautter/Wolff, SGG, 9/2004, § 86b Rn. 10). Ausnahmsweise kann das Vollzugsinteresse zugunsten der Behörde vorliegen, wenn diese nämlich an der Anordnung der sofortigen Vollziehung oder der Aufhebung der aufschiebenden Wirkung durch eine entgegenstehende gerichtliche Entscheidung gehindert ist (OVG Niedersachsen, Beschluss v. 22.12.1994, 1 M 7516/94, MDR 1995 S. 796).