1 Allgemeines
Rz. 1
Im Zweiten Abschnitt werden die Rechtsmittel Berufung, Revision und Beschwerde abgehandelt. Daneben gibt es "andere Rechtsbehelfe" (§ 66 Abs. 1 SGG). Das sind alle verfahrensrechtlichen Mittel zur Verwirklichung eines Rechts (Zeihe, SGG, 8. Aufl. 11/2010, vor § 143 Rn. 2). Rechtsmittel ist ein Rechtsbehelf hingegen, wenn hierdurch eine Entscheidung vor ihrer Rechtskraft zur Nachprüfung durch die höhere Instanz gestellt wird und dies mit Devolutiv- und Suspensiveffekt einhergeht (Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl. 2011, vor § 511 Rn. 4). Zu unterscheiden sind ordentliche und außerordentliche Rechtsbehelfe.
Erstere sind solche, die in den Verfahrensordnungen als Instrument zur Überprüfung eines Verwaltungsakts oder einer gerichtlichen Entscheidung vorgesehen sind, z. B. der Widerspruch, Klage, Antrag auf mündliche Verhandlung nach Vorbescheid (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 66 Rn. 2 m. w. N.) oder die vorläufige Aussetzung eines Verwaltungsakts nach § 86a Abs. 3 SGG.
Außerordentliche Rechtsbehelfe sind solche, die lediglich der Überprüfung von Einzelheiten dienen. Hierzu zählen z. B. die Wiederaufnahmeklage und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder die Anhörungsrüge. Sie hindern die formelle Rechtskraft nicht. Die Erinnerung ist kein Rechtsmittel, weil sie keinen Devolutiveffekt hat (vgl. hierzu die Kommentierung zu § 178 Rn. 1); sie ist ein sonstiger Rechtsbehelf (Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 151 Rn. 1).
Rz. 2
Außergesetzliche Rechtsbehelfe sind solche, die die einschlägigen Verfahrensordnungen nicht vorsehen, die dennoch richterrechtlich für atypische Situationen entwickelt worden sind. Ob und inwieweit sie überhaupt statthaft sind (verneinend Zeihe, SGG, vor § 143 Rn. 15), ist in den Einzelheiten umstritten.
Rz. 2a
Ob die außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit den außerordentlichen Rechtsbehelfen zuzurechnen ist, hängt davon ab, ob sie dem Grunde nach überhaupt als statthafter Rechtsbehelf angesehen wird (bejahend BGH, Beschluss v. 28.10.1998, VIII ZR 190/98, NJW 1999 S. 290; Beschluss v. 12.10.1989, VII ZB 4/89, NJW 1990 S. 840). Seit Inkrafttreten des ZPO-ReformG v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1887, 1902) wird deren Statthaftigkeit nach ganz herrschender Auffassung zutreffend verneint (hierzu BGH, Beschluss v. 18.10.2011, IX ZA 97/11, IX ZA 98/11; Beschluss v. 26.7.2011, IX ZB 212/11; Beschluss v. 13.3.2006, II ZA 15/05; Beschluss v. 23.7.2003, XII ZB 91/03, NJW 2003 S. 3137; Beschluss v. 7.3.2002, IX ZB 11/02, BGHZ 150 S. 133; BVerwG, Beschluss v. 16.5.2002, 6 B 28/02, 6 B 29/02, NJW 2002 S. 2657; BFH, Beschluss v. 29.1.2003, I B 114/02, NJW 2003 S. 1344; VGH Bayern, Beschluss v. 21.3.2011, 4 C 11.463; OLG Celle, Beschluss v. 24.9.2002, 2 W 57/02, NJW 2002 S. 3715; Schenke, NVwZ 2005 S. 730; Greger, NJW 2002 S. 3049). Der früher in Teilen der Rechtsprechung (z. B. BGH, Beschluss v. 12.10.1989, VII ZB 4/89, NJW 1990 S. 840) und des Schrifttums (Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl. 12/1995, § 143 Rn. 58; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 172 Rn. 8 m. w. N.; Rohwer-Kahlmann, SGG, 4. Aufl., § 172 Rn. 10) vertretene Auffassung, in Extremfällen könne eine Beschwerde trotz eines gesetzliches Ausschlusses gegeben sein, kann nach Einführung der Anhörungsrüge (§ 178a SGG) nicht mehr gefolgt werden. Eine gesetzlich nicht vorgesehene Beschwerde ist daher ausnahmslos unstatthaft (zutreffend: LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 10.11.2011, L 5 AS 367/11 B). Dem liegt zugrunde: Das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsmittelklarheit erfordert, dass die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt werden und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sind. Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns gebietet es, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (BVerfG, Beschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107 S. 395, 416 m. w. N.). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist, welche Ziele er erreichen kann und wie er vorgehen muss. Es verstößt deshalb gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (BVerfG, Beschluss v. 16.1.2007, 1 BvR 2803/06, NJW 2007 S. 2538).
Entsprechend geht der EGMR davon aus, dass eine richterrechtlich begründete Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Urteil v. 8.6.2006, EuGRZ 2007 S. 255 = NJW 2006 S. 2389; vgl. auch BSG, Beschluss v. 21.5.2007, SozR 4-1500 § 160a Nr. 17; Beschluss v. 19.1.2010, SozR 4-1500 § 60 Nr. 7; LSG NRW, Beschluss v. 17.11.2011, L 16 KR 585/11 B). Eine außerordentliche Beschwerde ist daher nicht statthaft...