Rz. 23
Den verschiedentlich (vgl. Plagemann, NZS 2005 S. 290) postulierten Grundsatz der Klägerfreundlichkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens kennt das Prozessrecht des SGG nicht (so zu Recht Ulmer, in: Hennig, SGG Vor § 51 Rn. 13). Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden ebenso wie die Gerichte anderer Gerichtsbarkeit nach Gesetz und Recht und nicht aufgrund einer prozessrechtlich immanenten Voreingenommenheit zugunsten eines Beteiligten. Die vielfach fehlinterpretierte Vorschrift des § 2 Abs. 2 SGB I kann ebenfalls nicht als Beleg für einen Grundsatz klägerfreundlichen Verfahrens dienen. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine Vorschrift des materiellen Rechts handelt, gibt sie auf, die sozialen Rechte möglichst weitgehend (aber nicht über deren Regelungsgehalt hinaus) zu verwirklichen. Dieser Programmsatz weist auf die gebotene Ausgestaltung sozialrechtlicher Regelungen in den einzelnen Büchern des SGB hin, nicht aber auf deren prozessuale Durchsetzung. Auch aus sozialpolitischer Sicht ist eine andere Sichtweise kaum zu rechtfertigen. Das Gericht hat Allgemeininteressen, insbesondere die Interessen der Versichertengemeinschaft in der Sozialversicherung ebenso zu wahren wie die Interessen des auf Gewährung von Sozialleistungen klagenden Beteiligten.
Rz. 24
Vorschriften des SGG sowie des materiellen Rechts, die verschiedentlich als Beleg für die besondere Klägerfreundlichkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens herangezogen werden, sind in Wirklichkeit Ausdruck anderer prozessrechtlicher Grundsätze. Der im sozialgerichtlichen Verfahren ebenso wie im verwaltungs- und finanzgerichtlichen Verfahren geltende Untersuchungsgrundsatz bietet gerade für einen unvertretenen prozessunkundigen Kläger entscheidende prozessuale Wohltaten: Er hat eine nur minimale Darlegungslast. Das Gericht hat unklaren und unvollständigen Sachvortrag zu klären und zu vervollständigen und auf sachdienliche Anträge hinzuweisen (§§ 103, 106 Abs. 1). Die formelle Beweislast ist dem Kläger ebenfalls genommen. Er muss nicht Beweis anbieten. Das Gericht erforscht vielmehr den Sachverhalt von Amts wegen und erhebt die erforderlichen Beweise.
Rz. 25
Weitere Vorschriften des SGG, die verschiedentlich als klägerfreundlich apostrophiert werden, stellen in Wirklichkeit spezialgesetzliche Ausprägungen des Grundsatzes fairen Verfahrens sowie des Grundsatzes der Waffengleichheit dar. Dazu gehört die Vorschrift des § 92, wonach die Anforderungen an den Inhalt der Klageschrift gemildert sind, um die Darlegungslast des Klägers zu minimieren. Freilich hat der Gesetzgeber soeben mit dem SGGArbGGÄnd v. 31.3.2008 (BGBl. I S. 444) mit Wirkung v. 1.4.2008 die Anforderungen in maßvollem Umfang verschärft und an die entsprechende Regelung des § 82 VwGO angenähert. Die rechtspolitisch umstrittene Vorschrift des § 109, wonach auf Antrag des Klägers ein bestimmter Arzt seines Vertrauens gutachtlich gehört werden muss, trägt dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient Rechnung und soll der Waffengleichheit und dem Rechtsfrieden dienen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 109 Rn. 1 m. w. N.).