Rz. 10
Der erst auf Vorschlag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung angefügte Abs. 2, der die Bedeutung der sozialen Rechte als Auslegungs- und Ermessensregelung formuliert, hat lediglich klarstellende Funktion; denn bereits zu Abs. 1 war im Gesetzentwurf (BT-Drs. 7/868 S. 21) ausgeführt, dass dadurch die Anwendung der Einzelvorschriften durch Verwaltung und Rechtsprechung erleichtert und gelenkt wird, weil bei der Auslegung, Lückenfüllung und Ermessensausübung immer wieder auf Grundsätze des Sozialrechts zurückgegriffen werden müsse.
Rz. 11
Der Nutzeffekt der sozialen Rechte für Auslegung und Ermessensentscheidungen erscheint gering; denn die Auslegung i. S. einer Anspruchsbegründung scheidet da aus, wo klare gesetzliche Regelungen der besonderen Bücher den Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen ausschließen oder vor dem Hintergrund des § 31 eine Ausweitung nicht zulassen. Bevor auf Abs. 2 zurückgegriffen werden kann, ist vorrangig die in Rede stehende Vorschrift selbst auszulegen (vgl. BSG, Urteil v. 30.9.1992, 11 RAr 73/91). Ermessensentscheidungen über Leistungen müssen und können für bestimmte konkrete Sozialleistungen überhaupt nur dann getroffen werden, wenn sie spezialgesetzlich als solche zugelassen sind, wobei dann das Ermessen und dessen Umfang zumeist auch inhaltlich durch die Vorgaben in den besonderen Büchern bestimmt wird; Abs. 2 selbst schafft keine Ermessensspielräume. Er gibt bei der Auslegung der sozialen Rechte und deren Verwirklichung keinen Vorrang gegenüber den spezialgesetzlich geregelten Ansprüchen, sodass die Vorschrift auch nicht zur Ausweitung der Ansprüche herangezogen werden kann, selbst wenn in den vorhandenen Regelungen echte oder vermeintliche Lücken vorhanden sind. Insoweit beschränkt sich die Regelung auf eine Auslegung von auslegungsbedürftigen Vorschriften des besonderen Sozialrechts i. S. einer Auslegung der Verwirklichung der sozialen Rechte und damit individueller Sozialleistungsansprüche.
Rz. 12
In der Rechtsprechung hat § 2 Abs. 2 daher eine eher ergänzende Funktion zu anderen Vorschriften oder zur Bestätigung der durch allgemeine Auslegungsregeln gefundenen Ergebnisse gefunden. Das BSG (Urteil v. 7.2.2012, B 13 R 40/11 R und Urteil v. 8.2.2012, B 5 R 38/11 R) hat darauf hingewiesen, dass die Regelung eine bürgerfreundliche Gesetzesinterpretation gebietet, soweit eine solche unter Zugrundelegung der anerkannten Auslegungsmethoden möglich ist. Insbesondere im Zusammenhang mit Antragstellungen im Sozialverwaltungsverfahren ist die Norm dafür herangezogen worden, dass Anträge ungeachtet des möglicherweise konkreten Wortlauts als auf alle möglichen Leistungsansprüche gerichtet verstanden werden müssen (vgl. BSG, Urteil v. 29.11.2007, B 13 R 44/07 R; vgl. z. B. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 6.9.2023, L 2 R 239/22: Das Begehren der Klägerin war entsprechend der Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 SGB I auf eine umfassende, nach Maßgabe des Leistungsrechts des Sozialgesetzbuches – hier: des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V sowie des Leistungsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem SGB VI – bestmögliche Versorgung mit einem neuen Hörgerät gerichtet; vgl. auch Bürck, Festschrift 50 Jahre BSG, S. 139: Gebot der Sozialrechtsoptimierung). Zur Ergänzung wird die Vorschrift auch dann herangezogen, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe in ihren Grenzen zugunsten der Leistungsberechtigten bestimmt werden müssen (vgl. BSG, Urteil v. 8.11.2005, B 1 KR 26/04 R; BSG, Urteil v. 24.5.2006, B 3 KR 12/05 R). Die Geltung des § 2 Abs. 2 führt nach der Rechtsprechung (vgl. BSG, Beschluss v. 21.7.1977, GS 1/76) nicht dazu, dass eine durch Auslegung ermittelte Auslegung von spezialgesetzlichen Rechtsvorschriften geändert werden muss. Insbesondere kommt der Auslegungsregelung keine Beweiserleichterungsfunktion zu (BSG, Beschluss v. 22.6.1988, 9/9a BVg 4/87; Niedermeyer, in: BeckOK SozR, SGB I, § 2 Rz. 8a m. w. N.).
Rz. 13
In neueren Entscheidungen hat das BSG das Sicherstellungsgebot des § 2 Abs. 2 HS 2, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, hervorgehoben. So sei ein Beratungsfehler des Krankenhauses in Form der Verletzung sozialrechtlicher Informations- und Beratungspflichten aus § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB XI im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements zu Leistungen der sozialen Pflegeversicherung den Pflegekassen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuzurechnen (BSG, Urteil v. 17.6.2021, B 3 P 5/19 R; ferner Urteil v. 30.1.2020, B 2 U 2/18 R – möglichst weitgehende Verwirklichung der sozialen Rechte – § 2 Abs. 2 HS 2 SGB I – sozialrechtlicher effet utile, hier: zum Arbeitsweg i. S. v. § 8 Abs. 2 SGB VII).