0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist mit dem SGB I durch das Gesetz v. 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015) mit Wirkung zum 1.1.1976 in Kraft getreten und seither nicht geändert worden.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift regelt die partielle Handlungsfähigkeit 15-Jähriger für den Bereich des Sozialrechts und erweitert insoweit die beschränkte Handlungsfähigkeit nach §§ 106ff. BGB.
Rz. 2a
Die Regelung ist in BT-Drs. 7/868 S. 28/29 wie folgt begründet worden:
"Zu den Grundsatznormen, die die Stellung des einzelnen im Sozialrecht bestimmen, gehört auch die Regelung, von welchem Alter an der einzelne ohne Mitwirkung seines gesetzlichen Vertreters Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann. Zur Zeit werden teils privat-rechtliche Grundsätze entsprechend angewandt, teils ist die Vollendung des 16. Lebensjahres maßgebend, teils unterstellt die Praxis eine Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. § 36 geht davon aus, dass Minderjährige bereits mit der Vollendung des 14. Lebensjahrs ins Arbeitsleben eintreten können und danach befugt sind, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Rechte selbstständig wahrzunehmen."
Im Verlauf der weiteren Beratungen ist die Altersgrenze dann auf die Kritik des Bundesrates (BT-Drs. 7/868 S. 41) auf das vollendete 15. Lebensjahr heraufgesetzt worden (BT-Drs. 7/3738 S. 5).
Rz. 2b
Bei der Vorschrift handelt es sich jedoch nicht um eine generelle Regelung für die Rechtsstellung des/der Minderjährigen im Sozialrecht, da sich die Handlungsfähigkeit nur auf die Beantragung und Verfolgung von Sozialleistungsansprüchen bezieht und auf diese beschränkt ist. Diese bereits starke Einschränkung kann zudem durch den/die gesetzlichen Vertreter weiter eingeschränkt werden. Aufgrund der Beschränkung auf Sozialleistungsansprüche bedurfte es z. B. für die Ausübung von Krankenkassenwahlrechten einer ausdrücklichen Regelung in § 175 Abs. 1 Satz 3 SGB V.
Rz. 2c
Die Vorschrift wird durch § 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB X, § 71 Abs. 2 SGG, § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO notwendig um die verwaltungsverfahrensrechtliche und prozessuale Handlungsfähigkeit ergänzt, die die eigene effektive Verfolgung und Durchsetzung der eigenen Ansprüche erst ermöglicht. Erst dadurch werden Minderjährige im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren in eigenen Angelegenheiten handlungs- bzw. prozessfähig. Für den Bereich des Bürgergeldes ist in § 38 SGB II eine besondere Vertretungsregel vorgesehen, wonach der antragstellende Hilfebedürftige bevollmächtigt ist, Leistungen für die gesamte Bedarfsgemeinschaft entgegenzunehmen und alle damit verbundenen Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Rz. 3
Die Vorschrift fällt nicht unter den Vorbehalt besonderer Bestimmungen nach § 37, gilt also uneingeschränkt für alle Bereiche des SGB. Vorausgesetzt wird von der Vorschrift die zumindest beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger (§ 106 BGB), die nicht wegen § 105 BGB fehlen darf. Unberührt von der Vorschrift bleibt die Handlungs- und Einwilligungsfähigkeit nach Zivil- oder Strafrecht für medizinische Maßnahmen.
2 Rechtspraxis
2.1 Handlungsfähigkeit (Abs. 1)
Rz. 4
Anlass und Ausgangspunkt für die Einräumung der Handlungsfähigkeit im Sozialrecht war die unbeschränkte zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit für mit einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis – zu dem der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen ermächtigt hat – zusammenhängende Rechtsgeschäfte (§ 113 Abs. 1 BGB). Da mit Dienst- oder Arbeits-/Ausbildungsverhältnissen Sozialversicherungspflicht mit entsprechenden Beitragspflichten verbunden ist, war es lediglich konsequent, für die daraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche gleichfalls die Handlungsfähigkeit vorzusehen.
Rz. 5
Da zur Zeit des Inkrafttretens der Regelung im Alter von 15 Jahren typischerweise eine Berufstätigkeit begonnen wurde, war der Zeitpunkt der Handlungsfähigkeit entsprechend auf die Vollendung des 15. Lebensjahres (d. h. den Tag des 15. Geburtstags gemäß § 187 Abs. 2 BGB) festgelegt. Wenngleich die Regelung vor diesem konkreten sozialversicherungsrechtlichen Hintergrund erfolgte, ist sie jedoch nicht auf den Bereich der Sozialversicherung beschränkt worden, sondern gilt für alle Bücher des SGB und die nach § 68 als besondere Teile des SGB geregelten Gesetze. Zudem gilt die Regelung für alle Minderjährigen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Abs. 1) in der Bundesrepublik haben, nicht nur für Deutsche.
Rz. 6
Der Begriff der Handlungsfähigkeit im Sozialrecht beinhaltet im Wesentlichen den zivilrechtlichen Aspekt der Rechtsfähigkeit, da er die Fähigkeit zur wirksamen Stellung von Anträgen als einseitige anspruchsauslösende Rechtshandlung (§ 107 BGB) als auch die Wirksamkeit zur Entgegennahme von Leistungen beinhaltet, mit der der Anspruch dann auch erfüllt ist (§ 362 BGB, vgl. BSG, Beschluss v. 4.2.1991, 13/5 BJ 269/90). Sie bezeichnet die Fähigkeit, sozialrechtliche Rechtshandlungen selbstständig, vollwirksam ohne Einwilligung des Erziehungsberechtigten vornehmen zu können. Nach dieser Maßgabe ist Regelungsgegenstand nicht eine generelle und umfassende Handlungsfähigkeit im Sozialrec...