2.1 Vorrang besonderer Vorschriften gegenüber dem SGB I und SGB X
Rz. 5
Die Vorschrift legt als Grundsatz fest, dass das SGB I und das SGB X für alle Sozialrechtsbereiche des SGB gelten. Das entspricht dem Charakter und der Zwecksetzung dieser Bücher als Allgemeine Teile, die zur Vereinfachung der geltenden Sozialrechtsordnung und ihrer besseren Transparenz den einzelnen Sozialleistungsbereichen vorangestellt werden sollten, und der Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts des Sozialgesetzbuchs. Andererseits wird klargestellt, dass in besonderen Teilen des SGB Abweichungen von diesen allgemeinen Vorschriften geregelt werden können, die dann vorgehen (Grundsatz "lex specialis derogat legi generali"). Dieser Vorbehalt wurde insbesondere gewählt, weil mit dem SGB I und X keine umfassende Kodifikation des Sozialrechts verbunden war, mit der widersprüchliche Regelungen hätten beseitigt werden können. Andererseits bleibt dadurch die Möglichkeit bestehen, für bestimmte Sozialgesetzbücher bereichsspezifische abweichende Regelungen treffen zu können, ohne bei den Einzelvorschriften des SGB I oder X jeweils Vorbehalte für abweichende Bestimmungen in den besonderen Teilen eines SGB einfügen zu müssen.
Rz. 6
Da noch nicht alle Sozialgesetze als Bücher des SGB kodifiziert sind, mussten diese in die Geltung des Satzes 1, der das SGB als solches anspricht, einbezogen werden. Dies wird nunmehr durch den Hinweis auf § 68 bewirkt, wonach die dort benannten Gesetze im dort angegebenen Umfang bis zu ihrer Einordnung als besondere Bücher des SGB gelten. Auch in diesen Gesetzen können daher abweichende und vorrangige Bestimmungen enthalten sein.
Rz. 7
Nachrangig sind die Vorschriften des SGB I und X soweit abweichende Vorschriften in den besonderen Gesetzbüchern bestehen. Von einer in der Regelung abweichenden Vorschrift lässt sich nur dann sprechen, wenn zwar der Regelungsgegenstand, nicht jedoch der Regelungsinhalt und -umfang identisch sind. Eine Abweichung gegenüber dem SGB X kann, muss aber nicht dem Wortlaut der vorrangigen Vorschrift unmittelbar zu entnehmen sein. Verdrängende Wirkung kommt einer Spezialregelung im Rahmen der besonderen Teile des SGB auch ohne ausdrückliche Anordnung zu, wenn sich aus ihrem Sinn und Zweck bei Berücksichtigung der zugrundeliegenden Interessenbewertung ergibt, dass der von ihr erfasste Sachverhalt eigenständig und abweichend geregelt werden soll (BSG, Urteil v. 23.7.2015, B 2 U 15/14 R). Keine Abweichungen liegen vor, wenn gegenüber allgemeinen Vorschriften Konkretisierungen oder Modifikationen vorgenommen werden (Reyels, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, § 37 Rz. 25, Stand: 15.6.2024).
Rz. 8
Vom SGB X abweichende verfahrensrechtliche Vorschriften enthält etwa das SGB III (§§ 328 ff.), soweit die Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten betroffen sind. Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (vormals § 68 Nr. 8) ist zum 1.1.2024 mit Inkrafttreten des SGB XIV außer Kraft getreten. Aber auch andere Gesetze können Abweichungen vom Verfahrensrecht des SGB X treffen, indem z. B. das Kindergeldrecht (§ 68 Nr. 9) weitgehend in das Einkommensteuergesetz (§§ 74 ff. EStG) integriert wurde und damit nicht nur aus dem Sozialgesetzbuch herausgenommen wurde, sondern dadurch auch dem Verfahrensrecht der Abgabenordnung (AO) statt des SGB X unterliegt, was nicht verfassungswidrig ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 6.4.2011, 1 BvR 1765/09).
Rz. 9
Über den Umfang oder die Grundlage der abweichenden Bestimmungen enthält die Regelung keinen Hinweis und auch keine Einschränkung, sodass grundsätzlich auch Landesrecht oder untergesetzliche Rechtsnormen (insbesondere Rechtsverordnungen oder Satzungen, vgl. Just, in: Hauck/Noftz SGB I, § 37 Rz. 7, Stand: November 2021) abweichende Bestimmungen enthalten könnten. Dies gilt auch dann, wenn die Länder ermächtigt sind, die Ausgestaltung bestimmter sozialrechtlicher Regelungen näher zu bestimmen (Just, in: Hauck/Noftz, SGB I, § 37 Rz. 8, Stand: November 2021; Reyels, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, § 37 Rz. 28, Stand: 15.6.2024; Mrozynski, SGB I, 7. Aufl., § 37 Rz. 5). Landesrecht kann jedoch für das bundesgesetzliche Sozialrecht als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) wegen des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 31 GG) keine materiellrechtlichen Abweichungen enthalten. Dies schließt allerdings nicht aus, dass insbesondere die Ausführung von Bundesgesetzen nach Landesrecht erfolgt und in diesem Zusammenhang dann Abweichungen vom SGB I oder SGB X erfolgen können. Rechtsverordnungen oder Satzungen sind bereits von der dafür erforderlichen gesetzlichen Ermächtigung her nur dann als Grundlage für abweichende Regelungen denkbar, wenn in der Ermächtigung bereits die Abweichung vorgesehen ist. Selbst Verträge, wie der Bundesmantelvertrag-Ärzte, der auf gesetzlicher Ermächtigung beruht, können abweichende Bestimmungen enthalten (BSG, Urteil v. 1.2.1995, 6 RKa 9/94).
Rz. 10
Zu den abweichenden Bestimmungen gehören nach der Gesetzesbegründung jedoch nicht nur au...