2.1 Aufenthalt trotz Ausreisetermins und Ausreisemöglichkeit (Abs. 1 Satz 1)

2.1.1 Personenkreis

 

Rz. 4

Der durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz mit Wirkung zum 24.10.2015 neu geschaffene Abs. 2 wurde durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht mit Wirkung zum 21.8.2019 zu Abs. 1 und der bisherige Abs. 1 wurde zu Abs. 2.

Abs. 1 Satz 1 normiert für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 eine Leistungseinschränkung. Die Vorschrift betrifft mithin Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Dazu gehören Ausländer, die

  1. keinen Asylantrag gestellt haben und über keinen Aufenthaltstitel verfügen und damit vollziehbar ausreisepflichtig sind, sowie Ausländer, die
  2. nach Ablehnung des Asylantrags noch nicht ausgereist sind oder noch nicht abgeschoben wurden, sowie Ausländer, die
  3. sich illegal in Deutschland aufhalten (vgl. §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG).

Familienangehörige sind nur dann erfasst, wenn sie selbst die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 erfüllen (vollziehbar ausreisepflichtig, Ausreisetermin verstrichen, Ausreisemöglichkeit, vertreten müssen). Dies ist in Bezug auf jede einzelne Person zu prüfen.

2.1.2 Ausreisetermin und Ausreisemöglichkeit

 

Rz. 5

Weitere Voraussetzung für die Leistungseinschränkung ist, dass für den betreffenden Leistungsberechtigten ein Ausreisetermin feststeht. Dem ausreisepflichtigen Ausländer wird zunächst eine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt und ein Ausreisetermin festgelegt. Dies gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Erst wenn der Betreffende diesen Termin verstreichen lässt, setzt die Leistungskürzung ein und die Abschiebung zur zwangsweisen Durchsetzung der Ausreise kommt in Betracht. Darüber hinaus muss für den Betreffenden auch eine Ausreisemöglichkeit bestehen. Dies ist weitere zwingende Voraussetzung für die Leistungseinschränkung. Ob für den Betreffenden eine Ausreisemöglichkeit besteht, ist individuell für den Einzelfall zu prüfen. An der Ausreisemöglichkeit kann es infolge des gesundheitlichen Zustands oder der familiären Situation fehlen. Dies hat der Leistungsträger (und parallel dazu die zuständige Ausländerbehörde bzw. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) zu prüfen. Falls ein Verbot der Abschiebung besteht (§ 60 AufenthG) oder eine Duldung ausgesprochen wird (§§ 60a, 60b, 60c, 60d AufenthG), gehört der Ausländer nicht zum Personenkreis nach § 1 Abs. 12 Nr. 5, sodass schon deshalb keine Leistungsminderung in Betracht kommt. Mit umfasst vom sachlichen Anwendungsbereich von Abs. 1 Satz 1 sind auch Leistungsberechtigte, bei denen das Verfahren zur zwangsweisen Abschiebung in Gang gesetzt wurde (vgl. Abs. 1 Satz 2).

2.1.3 Vertretenmüssen

 

Rz. 6

Falls der Betreffende trotz Ausreisemöglichkeit zum festgesetzten Termin nicht ausreist, ist zu prüfen, ob die Ausreise aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht durchgeführt werden konnte. Nur dann kommt es nicht zum Verlust des Anspruchs auf Leistungen nach §§ 2, 3 und 6. Die Leistungseinschränkung ist nur ausgeschlossen, wenn die Leistungsberechtigten unverschuldet an der Ausreise gehindert waren. Dies ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6185 S. 44) insbesondere der Fall, wenn aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Ausreise bzw. aufenthaltsbeendende Maßnahmen ausgeschlossen sind (z. B. Reiseunfähigkeit oder faktisch keine Reisemöglichkeit). Wenn derartige Gründe vorliegen, hat die Ausländerbehörde allerdings gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Duldung zu erteilen mit der Folge, dass die Betreffenden bereits nicht zu den Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 gehören und schon deshalb von der Leistungseinschränkung nach Abs. 1 nicht betroffen sind.

2.2 Leistungen bis zur Ausreise oder zur Durchführung der Abschiebung (Abs. 1 Satz 2 bis 4)

 

Rz. 7

Zunächst einmal haben Leistungsberechtigte, die einen Ausreisetermin verstreichen lassen und eine Ausreisemöglichkeit nicht wahrnehmen und bei denen die Ausreise nicht aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden konnte, als Rechtsfolge keinen Anspruch auf Leistungen nach §§ 2, 3 und 6. Dabei handelt es sich um Leistungen in besonderen Fällen (§ 2), u. a. Leistungen nach dem SGB XII, Grundleistungen (§ 3), u. a. notwendiger Bedarf in Aufnahmeeinrichtungen und außerhalb davon, Leistungen für Bedarfe für Bildung und Teilhabe. Das BVerfG hatte im Urteil v. 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) zwar nicht über § 1a Abs. 1 der heute geltenden Fassung, sondern über die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 AsylbLG in der damals geltenden Fassung zu entscheiden. Nach Abs. 1 der damals geltenden Fassung bestand ein Anspruch auf Leistungen, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten war. Die Entscheidung des BVerfG ist jedoch deshalb bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der heute geltenden Fassung von Abs. 1 zu beachten, weil das BVerfG eine Absenkung des Leistungsniveaus unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum wegen Verstoßes gegen Art 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip ...

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