Rz. 16
Abs. 3 regelt die Voraussetzungen gegenüber der in Abs. 1 niedergelegten vorrangigen elterlichen Erziehungsverantwortung und den damit verbundenen Primat der elterlichen Gefahrenabwendung, unter denen die Berufsgeheimnisträger als Adressaten befugt sind, Informationen an das Jugendamt weiterzugeben (BR-Drs. 202/11 S. 29 = BT-Drs. 17/6256 S. 19; hier wird i. S. d. mehrstufigen Verfahrens konsequenterweise Abs. 3 auch als zweite Stufe bezeichnet); sog. Offenbarungsbefugnis gemäß § 4 Abs. 3 KKG (zum Begriff Kreft, Kriminalistik 2022 S. 600, 602). Mit der gesetzlich normierten Offenbarungsbefugnis wird die Unsicherheit der Offenbarungsbefugnis auf der Grundlage des gesetzlichen Notstandes nach § 34 StGB umgangen, der ohne die Sonderregelungen in § 4 (i. d. F. des KJSG) hätte ansonsten angewendet werden müssen (vgl. auch oben bereits Rz. 4 zum Sinn der Regelung; vgl. weitergehend auch Kreft, Kriminalistik 2022 S. 600, 602 f.).
Rz. 17
Scheidet eine Abwendung der Gefährdung aus oder sind die Maßnahmen nach Abs. 1 erfolglos, so ist die Beeinträchtigung des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch das staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) gerechtfertigt (so die Gesetzesmaterialien, vgl. in BR-Drs. 202/11 S. 30 = BT-Drs. 17/6256 S. 19). Die Voraussetzungen sind im Interesse des Kindeswohles weit auszulegen. Eine Offenbarungsbefugnis ist auch dann gegeben, wenn die Abwendung der Gefährdung ausscheidet, weil der Berufsgeheimnisträger aufgrund eines atypischen Falles das Gespräch mit dem Betroffenen nicht sucht bzw. suchen kann. Das ist dann zu bejahen, wenn der Berufsgeheimnisträger Sorge um das Vertrauensverhältnis hat oder keine hinreichende Fachkompetenz besitzt. Die Erfolglosigkeit ist z. B. dann zu bejahen, wenn dem Berufsgeheimnisträger das Kind auch nach einer evtl. durchgeführten Erörterung der Gefährdungssituation wieder "vorgestellt" wird und der Berufsgeheimnisträger erkennt, dass eine Besserung nicht eingetreten ist (vgl. insgesamt zu gebildeten Fallgruppen bei Schmieder, ZKJ 2022 S. 438).
Rz. 18
Mit dem Stufenverhältnis und der Subsidiarität der Informationsweitergabe an das Jugendamt ist auch klargestellt, dass es keine generelle Meldepflicht von Berufsgeheimnisträgern gibt (zutreffend auch Heimann/Berthold/Clemens/Witt/Fegert, JAmt 2021 S. 68).
Rz. 19
Abs. 3 ermächtigt die in Abs. 1 genannten Personengruppen, Informationen über eine Kindeswohlgefährdung an den öffentlichen Träger weiterzugeben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind:
- wenn eine Beratung aus Gründen im Einzelfall ausscheidet,
- wenn eine Beratung nach Abs. 2 erfolglos geblieben ist,
- wenn ein Tätigwerden des Jugendamtes erforderlich ist zur Abwendung der Gefährdung,
- nachdem die Betroffenen darüber informiert wurden, es sei denn, dass dadurch der Kinder- und Jugendschutz infrage gestellt würde (vgl. hierzu auch DIJuF-Rechtsgutachten v. 4.12.2018, SN_2018_1032 Ho, JAmt 2019 S. 78).
Rz. 20
Abs. 3 bewirkt, dass die genannten Personen nicht unbefugt i. S. d. § 203 StGB handeln und sich daher nicht strafbar machen. Damit wird bei einer strafrechtlichen Betrachtungsweise der Rückgriff auf den übergesetzlichen rechtfertigenden (§ 34 StGB) oder entschuldigenden (§ 35 StGB) Notstand überflüssig (vgl. weitergehend auch BR-Drs. 202/11 S. 30 f. = BT-Drs. 17/6256 S. 20).