Rz. 36
Abs. 2 stellt zugunsten der die Mitteilungspflicht treffenden Staatsanwälte und Richter eine Regelvermutung auf, wann gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung angenommen werden können.
Rz. 37
Ob tatsächlich gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung vorliegen, ist im Einzelfall aber dennoch von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zu prüfen (BR-Drs. 5/21 S. 126 = BT-Drs. 19/26107 S. 123). Es sind daher auch Fälle denkbar, in denen die Voraussetzung der Regelvermutung nach Abs. 2 vorliegen, dennoch aber keine Anhaltspunkte für die Gefährdung gegeben sind.
Rz. 38
Bei dem Katalog der zur Disposition stehenden Straftaten handelt es sich lediglich um Regelbeispiele, wie die Formulierung "... insbesondere ..." zeigt. Abs. 2 als Vermutung gewichtiger Anhaltspunkte für die Kindeswohlgefährdung ist daher ein offener Tatbestand (auf den beispielhaften Charakter der verwiesenen Straftatbestände verweist auch der Gesetzgeber in BR-Drs. 5/21 S. 125 = BT-Drs. 19/26107 S. 122). Die Frage, ob gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gegeben sind, ist damit keineswegs abgeschlossen geregelt und kann auch in anderen – ähnlich gelagerten Fällen – ggf. angenommen werden. Dabei ist im Interesse des Kindeswohls der vergleichbare Sachverhalt weit auszulegen. Dem Richter oder dem Staatsanwalt steht insoweit ein Beurteilungsspielraum i. S.e. Einschätzungsprärogative zu. Liegt kein exemplarisch genannter Straftatbestand vor, muss der Richter oder der Staatsanwalt dennoch im Rahmen der Einzelfallprüfung entscheiden, ob gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gegeben sind.
Rz. 39
Allgemeine Voraussetzung ist zunächst, dass die Person, gegen die das Strafverfahren geführt wird, mit einem Kind oder Jugendlichen in häuslicher Gemeinschaft lebt oder regelmäßig Umgang mit ihm hat oder haben wird. In solchen Fällen ergeben sich spezifische Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf etwaige bestehende Gefährdungslagen (BR-Drs. 5/21 S. 126 = BT-Drs. 19/26107 S. 123). Die häusliche Gemeinschaft knüpft an den tatsächlichen gewöhnlichen Aufenthalt sowohl der Betroffenen als auch des Kindes oder Jugendlichen an. Mit diesem Element wird klargestellt, dass eine Kindeswohlgefährdung i. S. eines "Zugriffsrechts" der betroffenen Person auf das Kind oder den Jugendlichen besteht. Besteht eine solche räumliche Nähe zwischen der betroffenen Person und dem Kind oder Jugendlichen nicht – etwa, weil sich die betroffene Person in U-Haft – befindet, scheidet eine Mitteilungspflicht regelmäßig aus.
Rz. 40
Die in Abs. 2 beispielhafte Aufzählung von Straftatbeständen umfasst sowohl allgemeinsittliche Schutzaspekte (§§ 171, 180 StGB) als auch Schutz vor sexualisierter (§§ 174, 176, 176a, 177, 182, 232 ff. StGB) und körperlicher (§ 225 StGB) Gewalt, sei es im Elternhaus, in Institutionen oder von dritter Seite (BR-Drs. 5/21 S. 125 = BT-Drs. 19/26107 S. 122). Die Regelvermutung wird nur ausgelöst, wenn eine der folgenden Straftaten angeklagt ist:
- § 171 StGB – Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht,
- § 174 StGB – Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen,
- § 176 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern,
- § 177 StGB – Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung,
- § 178 StGB – Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge,
- § 180 StGB – Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger,
- § 182 StGB – Sexueller Missbrauch von Jugendlichen,
- § 184b StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte,
- § 184c StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Inhalte,
- § 184e StGB – Veranstaltung und Besuch kinder- und jugendpornographischer Darbietungen,
- § 225 StGB – Misshandlung von Schutzbefohlenen,
- § 232 StGB – Menschenhandel,
- § 232a StGB – Zwangsprostitution,
- § 232b StGB – Zwangsarbeit,
- § 233 StGB – Ausbeutung der Arbeitskraft,
- § 233a StGB – Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung,
- § 234 StGB – Menschenraub,
- § 235 StGB – Entziehung Minderjähriger oder
- § 236 StGB – Kinderhandel.
Rz. 41
Der Verdacht der genannten Straftat an sich reicht dabei bereits aus. Es ist nicht zwingend, dass die in Rede stehende Straftat zulasten des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen besteht. Der Gesetzgeber hat die Regelvermutung des Abs. 2 insbesondere damit begründet, dass bereits aus der Nähe von Kindern und Jugendlichen zu Personen, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begehen bzw. derer verdächtig sind, für sie ein erhöhtes Gefährdungsrisiko resultieren kann (BR-Drs. 5/21 S. 124 = BT-Drs. 19/26107 S. 122). Damit ist auch klargestellt, das sich die Straftat nicht zwingend gegen das Kind oder den Jugendlichen gerichtet haben muss.
Rz. 41a
Weiter setzt die Regelvermutung voraus, dass ein entsprechender Verdacht der Erfüllung des jeweiligen Straftatbestandes besteht. Daraus resultiert, dass es nicht notwendig ist, dass bereits eine für eine Verurteilung notwendige Überzeugung gebildet sein muss. Die Straftat muss daher keineswegs erst nachgewiesen...