Rz. 24
Durch § 36a Abs. 3 hat der Gesetzgeber neben das Entscheidungsprimat des Jugendamtes als zweite Säule auch den Nachrang der Selbstbeschaffung kodifiziert. § 36a Abs. 3 soll im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit eine positiv-rechtliche Grundlage für die Selbstbeschaffung darstellen (Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 6.9.2004, zur BT-Drs. 15/3676 S. 27). Der Gesetzgeber greift insoweit die Fallgruppen der Rechtsprechung auf. Beim Versagen des Systems (sog. Systemversagen oder auch Steuerungsversagen, zur Erstattung von Kosten für den Besuch einer Privatschule im Rahmen von Eingliederungshilfe bei Systemversagen vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 25.4.2012, 12 A 659/11, JAmt 2012 S. 548; zur Voraussetzung "Systemversagen" vgl. auch Bay VGH, Urteil v. 23.2.2011, 12 B 10.1331; VG Freiburg, Urteil v. 23.2.2012, 4 K 1481/11, LS 3 und Rz. 25; vgl. auch bei: Wiesner, § 36a SGB VIII, Rz. 42), wenn der Leistungsträger die notwendige Hilfeleistung nicht stellt, kommt die Selbstbeschaffung durch den Anspruchsberechtigten in Betracht (vgl. Hinrichs, Selbstbeschaffung, Beurteilungsspielraum und weitere Probleme jugendhilferechtlicher Individualleistungen in der Rechtsprechung, ZfJ 2003 S. 449). Hierfür hat die Rechtsprechung auch bereits vor Einführung des § 36a im Jahre 2005 im Rahmen einer umfangreichen Kasuistik bestimmte Anspruchsvoraussetzungen geschaffen bzw. konturiert. Für die Entstehung eines Anspruchs auf Erstattung von Kosten musste daher bereits schon vor Einfügung des § 36a für eine selbst beschaffte Leistung der Jugendhilfe die Hilfe vor der Selbstbeschaffung formell beantragt worden (so BVerwG, Urteil v. 28.9.2000, 5 C 29/99) und die Bedarfsdeckung unaufschiebbar sein (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 14.3.2003, 12 A 1193/01). Der Einwand des Trägers der Jugendhilfe, er hätte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig erachtet, war dabei unbeachtlich (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 14.3.2003, 12 A 122/02; insgesamt Stähr, Leistungserbringung durch Träger der freien Jugendhilfe – Konsequenzen aus dem Urteil des BVerwG v. 28.9.2000 zur Selbstbeschaffung von Jugendhilfeleistungen, ZfJ 2002 S. 449).
2.3.1 Voraussetzungen der Selbstbeschaffung nach Abs. 3 Satz 1
Rz. 25
Werden Hilfen abweichend von den Abs. 1 und 2 vom Leistungsberechtigten selbst beschafft, so ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur unter den Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet. Dabei stellt das Wort "nur" den Nachrang der Selbstbeschaffung dar und mahnt ein enges Verständnis dieser Vorschrift an, um den Entscheidungsprimat des Jugendhilfeträgers nicht zu unterlaufen. In Anlehnung an diese ältere Rechtsprechung vor Inkrafttreten des § 36a konkretisiert § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 die Voraussetzungen einer zulässigen Selbstbeschaffung (vgl. zu den einzelnen Anspruchsvoraussetzungen der Selbstbeschaffung exemplarisch auch: VG Aachen, Urteil v. 30.09.2010, 1 K 1858/08), die die Übernahme der erforderlichen Aufwendungen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Folge haben:
- der Leistungsberechtigte muss den Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Kenntnis über den Hilfebedarf setzen – Abs. 3 Satz 1 Nr. 1,
- die Kenntnisgabe muss rechtzeitig, also insbesondere vor der Selbstbeschaffung erfolgen – ebenfalls Abs. 3 Satz 1 Nr. 1,
- die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe müssen erfüllt sein – Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und
- die Deckung des Bedarfs darf keinen zeitlichen Aufschub dulden – Abs. 3 Satz 1 Nr. 3.
Die Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (vgl. zu den Voraussetzungen eines Anspruchs auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Leistungen instruktiv auch BVerwG, Urteil v. 12.9.2013, 5 C 35/12).
2.3.1.1 Ungeschriebene Voraussetzung – geboten, geeignet und erforderlich
Rz. 26
Im Hinblick darauf, dass der Hilfesuchende bei einer Selbstbeschaffung der Maßnahme nicht besser gestellt sein kann, als bei der regulären Beschaffung im Hilfeplanverfahren, ist auch im Rahmen des § 36a Abs. 3 Satz 1 erforderlich, dass die Hilfe gerade in der gewählten Einrichtung ohne eine Vereinbarung nach § 78 b geboten ist (VG München, Urteil v. 25.2.2008, M 18 K 07.2489 Rz. 31). Ergänzende ungeschriebene Anspruchsvoraussetzung ist daher, dass die selbstbeschaffte Hilfe geboten, geeignet und erforderlich ist. Deshalb ist auch bei einer Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 zunächst zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.12.2014, 12 A 128/14 Rz. 3; vgl. zum Beurteilungsspielraum beim Hilfeplan die Komm zu § 36 Rz. 28). Sofern der Jugendhilfeträger keine Hilfeartentscheidung getroffen hat und anstelle dessen dem Leistungsberechtigten der Beurteilungsspielraum hierüber eingeräumt ist, hat sich eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle durch die Verwaltungsgerichte...