Rz. 25
Werden Hilfen abweichend von den Abs. 1 und 2 vom Leistungsberechtigten selbst beschafft, so ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur unter den Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet. Dabei stellt das Wort "nur" den Nachrang der Selbstbeschaffung dar und mahnt ein enges Verständnis dieser Vorschrift an, um den Entscheidungsprimat des Jugendhilfeträgers nicht zu unterlaufen. In Anlehnung an diese ältere Rechtsprechung vor Inkrafttreten des § 36a konkretisiert § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 die Voraussetzungen einer zulässigen Selbstbeschaffung (vgl. zu den einzelnen Anspruchsvoraussetzungen der Selbstbeschaffung exemplarisch auch: VG Aachen, Urteil v. 30.09.2010, 1 K 1858/08), die die Übernahme der erforderlichen Aufwendungen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Folge haben:
- der Leistungsberechtigte muss den Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Kenntnis über den Hilfebedarf setzen – Abs. 3 Satz 1 Nr. 1,
- die Kenntnisgabe muss rechtzeitig, also insbesondere vor der Selbstbeschaffung erfolgen – ebenfalls Abs. 3 Satz 1 Nr. 1,
- die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe müssen erfüllt sein – Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und
- die Deckung des Bedarfs darf keinen zeitlichen Aufschub dulden – Abs. 3 Satz 1 Nr. 3.
Die Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (vgl. zu den Voraussetzungen eines Anspruchs auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Leistungen instruktiv auch BVerwG, Urteil v. 12.9.2013, 5 C 35/12).
2.3.1.1 Ungeschriebene Voraussetzung – geboten, geeignet und erforderlich
Rz. 26
Im Hinblick darauf, dass der Hilfesuchende bei einer Selbstbeschaffung der Maßnahme nicht besser gestellt sein kann, als bei der regulären Beschaffung im Hilfeplanverfahren, ist auch im Rahmen des § 36a Abs. 3 Satz 1 erforderlich, dass die Hilfe gerade in der gewählten Einrichtung ohne eine Vereinbarung nach § 78 b geboten ist (VG München, Urteil v. 25.2.2008, M 18 K 07.2489 Rz. 31). Ergänzende ungeschriebene Anspruchsvoraussetzung ist daher, dass die selbstbeschaffte Hilfe geboten, geeignet und erforderlich ist. Deshalb ist auch bei einer Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 zunächst zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.12.2014, 12 A 128/14 Rz. 3; vgl. zum Beurteilungsspielraum beim Hilfeplan die Komm zu § 36 Rz. 28). Sofern der Jugendhilfeträger keine Hilfeartentscheidung getroffen hat und anstelle dessen dem Leistungsberechtigten der Beurteilungsspielraum hierüber eingeräumt ist, hat sich eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle durch die Verwaltungsgerichte über die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme auf eine Überprüfung im Rahmen einer ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken (BVerwG, Urteil v. 9.12.2014, 5 C 32/13 Rz. 33; hierzu auch Störmer, in: jurisPR-BVerwG 8/2015 Anm. 2). Die gerichtliche Kontrolldichte bezüglich der Ablehnung einer Hilfe aufgrund der Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers ist darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche und rechtliche Maßstäbe beachtet , keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und ob die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (OVG Lüneburg, Beschluss v. 4.3.2021, 10 ME 26/21 Rz. 6 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteile v. 9.12.2014, 5 C 32.13, und v. 18.10.2012, 5 C 21.11; Senatsbeschlüsse v. 31.3.2020, 10 PA 68/20, und v. 25.3.2020, 10 LA 292/18). Die akute Bedarfslage muss gerade mit dieser selbstbeschafften Hilfe überwunden werden (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 3.6.2009, 12 E 533/09). Ob die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub duldet, ist beeinflusst von der Frage, ob der Betroffene rechtzeitig die positive Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder eine Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung erlangen kann.
2.3.1.2 Kenntnisgabe nach Nr. 1
Rz. 27
Nach Nr. 1 hat der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis zu setzen. Die Kenntnisgabe über den Hilfebedarf durch den Leistungsberechtigten macht es nicht erforderlich, dass der Leistungsberechtigte einen förmlichen Antrag stellt; eine entsprechende eindeutige Willensbekundung des Leistungsberechtigten reicht aus (von Aktivierung des Hilfesystems spricht: Münder, § 36a SGB VIII, Rz. 40; vgl. auch Wiesner, § 36a SGB VIII, Rz. 44; Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 06/2022, § 36a SGB VIII, Rz. 27; v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 36a Rz. 13, der sich hier mit dem Antragserfordernis auseinandersetzt und im Ergebnis ablehnt; vgl. zur Frage eines Antragserfordernisses bei jugendhilferechtlichen Leistungen auch die Komm. zu § 35a Rz. 6; vgl. allge...