2.2.1 Perspektivklärung und Rückkehrvorrang (vertretbarer Zeitraum) nach Satz 1
Rz. 20
Bei der Perspektivklärung nach Abs. 1 ist der Maßstab, ob die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums so weit verbessert werden, dass die Herkunftsfamilie das Kind oder den Jugendlichen wieder selbst erziehen, betreuen und fördern kann. Die Regelung greift insoweit die Regelungen zum Vorrang der Herkunftsfamilie und zur Rückkehroption nach § 37 Abs. 1 Satz 2 auf (auf die Komm. zu § 37 wird insoweit verwiesen).
Rz. 21
Wie in der geltenden Fassung des § 37 Abs. 1 Satz 2 bereits vorgesehen, ist im Prozess der Perspektivklärung nach Abs. 1 entscheidend, ob durch die im Rahmen der erzieherischen Hilfe gewährten Leistungen die Entwicklungs-, Teilhabe- oder Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums so weit verbessert werden können, dass sie das Kind oder den Jugendlichen wieder selbst erziehen kann. Von zentraler Bedeutung ist daher auch bei der Perspektivklärung die Beratung und Unterstützung der Eltern und die Förderung ihrer Zusammenarbeit mit der Pflegeperson bzw. der in der Einrichtung für die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen verantwortlichen Person (BR-Drs. 5/21 S. 89 = BT-Drs. 19/26107 S. 91).
Rz. 21a
Der Begriff vertretbarer Zeitraum knüpft nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Norm an der Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen an. Innerhalb eines vertretbaren Zeitraums muss es zu einer Verbesserung der Entwicklungs-, Teilhabe- oder Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie kommen. Maßgeblich ist daher der kindliche Zeitbegriff (Ivanits, NZFam 2022 S. 813, 815). Der vertretbare Zeitraum ist dabei nicht starr, sondern immer eine Frage des Einzelfalls. Dem Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen kommt dabei prägende Bedeutung zu. Unter Bezugnahme auf die psychologische Forschung werden in der Literatur Maximalzeiten diskutiert, nach deren Ablauf die Annahme unvernünftig ist, dass die verbliebenen Bindungen eines Kindes an seine abwesenden Eltern wichtiger wären als jene Bindungen, die sich zwischen ihm und seinen langzeitigen Betreuungspersonen entwickelt haben. Bei einem Kind, das zum Zeitpunkt der Unterbringung bis zu drei Jahre alt war, werden 12 Monate angenommen; bei einem Kind, das zum Zeitpunkt der Unterbringung über drei Jahre alt war, werden 24 Monate angenommen (Ivanits, a.a.O).
2.2.2 Perspektivklärung und dauerhafte Lebensperspektive nach Satz 2
Rz. 22
Ist eine nachhaltige Verbesserung nicht möglich, so soll mit den beteiligten Personen eine auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden. Die Regelung entspricht den Vorgaben des § 37 Abs. 1 Satz 3 zur Beratung und Unterstützung der Eltern, wenn sich eine Rückkehroption zerschlagen hat (auf die Komm. zu § 37 wird insoweit verwiesen). Satz 2 greift insoweit das bislang in § 37 Abs. 1 Satz 4 (in der Fassung bis 9.6.2021) geregelte Erfordernis der Erarbeitung einer auf Dauer angelegten Lebensperspektive auf, wenn eine Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen in die Herkunftsfamilie nicht innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums möglich ist (BR-Drs. 5/21 S. 89 = BT-Drs. 19/26107 S. 91).
2.2.3 Adoptionsvorrang – Annahme als Kind als dauerhafte Lebensperspektive nach Satz 3
Rz. 23
Abs. 3 regelt den Grundsatz des Adoptionsvorrangs, der ursprünglich in § 36 Abs. 1 Satz 2 geregelt war (vgl. BR-Drs. 5/21 S. 89 = BT-Drs. 19/26107 S. 91).
Rz. 24
Die Prüfung der Annahme als Kind – also der Adoptionsvorrang – ist bei der Erarbeitung der dauerhaften Lebensperspektive allerdings nur ein Regelbeispiel, wie sich aus der Formulierung "insbesondere" ergibt. Allerdings ist das Regelbeispiel im Interesse eines in Zukunft stabilen Lebensumfeldes eine gewichtige Variante einer dauerhaften Lebensperspektive. Diese rückt umso stärker in den Vordergrund, je jünger das Kind ist. Bei Jugendlichen – also nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 der Personengruppe, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist – können ggf. andere Hilfen zur Schaffung einer dauerhaften Lebensperspektive der Vorrang gegenüber der Annahme als Kind eingeräumt werden. Bei dieser Altersgruppe können insoweit andere Maßnahmen sinnvoll – also geeignet und erforderlich – sein.
Rz. 25
Der Adoptionsvorrang ist ein Regelbeispiel mit Vorrangscharakter. Die Prüfung der Adoptionseignung beruht auf dem Vorrang der Adoption vor einer Fremdunterbringung i. S. d. § 36 Abs. 1 Satz 2 (Wiesner, noch zu § 36 SGB VIII, Rz. 38; vgl. auch: Hoffmann, Adoptionsoption in der Hilfeplanung – Perspektive der Fachkräfte in der Hilfeplanung, JAmt 2011 S. 10).
Rz. 26
Diese Prüfpflicht greift allerdings erst, wenn die Rückkehroption fehlgeschlagen ist und die auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden muss; das ergibt sich aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Satz 3 zu Satz 2 ebenso wie aus Sinn und Zweck des Vorrangs der Herkunftsfamilie i. S. d. Satz 1. Der Adoptionsvorrang steht im Konkurrenzverhältnis zu § 37 Abs. 1 Satz 2. Im Interesse des Kindes und in Erfüllung der verfassungsr...