Rz. 35
Dem Jugendamt wird freilich nicht das Personensorgerecht zugewiesen. Dieses verbleibt uneingeschränkt bei dem Personensorgeberechtigten, solange das Familiengericht keine sorgerechtliche Entscheidung getroffen hat. Daher hat das Jugendamt den mutmaßlichen Willen der Personensorgeberechtigten oder der Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen. Auch an dieser Stelle – bei der Ausübung sorgerechtsähnlicher Befugnisse – ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Maßnahmen müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Rz. 36
Bei Selbstmeldern (Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) und bei Inobhutnahme wegen dringender Gefahr für das Kindeswohl (Abs. 1 Satz 1 Nr. 2) hat das Jugendamt gemäß Abs. 3 Satz 1 unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu unterrichten. Anders als bisher nennt das Gesetz nunmehr die Abschätzung des Gefährdungsrisikos im Zusammenhang mit der Unterrichtung. Auch die Gesetzesfassung durch das KJSG trifft keine differenzierte Aussage über den Umfang der Unterrichtung. Zwar heißt es nun im Gesetzeswortlaut von Abs. 3 Satz 1, die Unterrichtung solle umfassend in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen. Jedoch ist auch weiterhin in dem Zusammenhang insbesondere umstritten, ob auch der Aufenthaltsort des Kindes oder Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten mitzuteilen ist. Für eine Pflicht zur Mitteilung des Aufenthaltsortes spricht der Umstand, dass das Personensorgerecht das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts beinhaltet. Jedoch ergibt der Regelungszusammenhang des neu gefassten Abs. 3 Satz 1 und 2 eher Argumente dafür, dass eine Abwägung im Einzelfall zu erfolgen hat, ob die Mitteilung des Aufenthaltsortes unter Beachtung der Grundrechte des Kindes und der Personensorgeberechtigten erfolgen soll. Die Art der Unterbringung sowie weitere Fakten im Zusammenhang mit dem Anlass und den sonstigen Umständen, die zur Inobhutnahme geführt haben, sollten den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten mitgeteilt werden. Nur so können sie entscheiden, ob sie gemäß Abs. 3 Satz 2 der Inobhutnahme widersprechen sollen oder nicht.
Rz. 37
Neben der Unterrichtung hat das Jugendamt gemeinsam mit den Eltern das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Dabei handelt es sich um eine sozialpädagogische Vorgehensweise. Sie soll dazu dienen, das Gefährdungsrisiko zu erkennen, es zu akzeptieren und gemeinsam Überlegungen und Strategien zur Abwendung der Gefährdung zu entwickeln. Dazu kann es auch gehören, dass gemeinsam mit den Personensorge- und Erziehungsberechtigten vereinbart wird, bestimmte Hilfen zur Erziehung zu erbringen, die deren Mitwirkung erfordern oder die Fortdauer der Hilfegewährung außerhalb des Elternhauses für eine gewisse Zeit hinweg zu vereinbaren.
Rz. 38
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und 2 zeigen die Entscheidungsalternativen des Jugendamtes für den Fall auf, dass die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme widersprechen. Bei gemeinsamem Sorgerecht müssen beide Berechtigten widersprechen. Ansonsten ist der Widerspruch unwirksam. Der Widerspruch nach Abs. 3 Satz 2 ist von dem Widerspruch nach §§ 68 ff. VwGO zu unterscheiden. Die nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 herbeizuführende Entscheidung über die erforderlichen Maßnahmen ist zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen. Über die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme entscheidet das Verwaltungsgericht auf Widerspruch nach § 69 VwGO hin. Insoweit ist allein der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet (VG Würzburg, Beschluss v. 20.7.2022, W 3 S 22.1108; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 42 Rz. 218).
Rz. 39
Während einer wirksamen Inobhutnahme wird das Kind dem Personensorgeberechtigten nicht widerrechtlich vorenthalten. Daher hat dieser gegen das Jugendamt keinen Anspruch auf Herausgabe des Kindes nach § 1632 Abs. 1 BGB (OLG Brandenburg, Beschluss v. 18.2.2019, 13 WF 210/18; OLG Frankfurt, Beschluss v. 22.1.2019, 4 WF 145/18).Die Neufassung der Nr. 1 durch das KICK schränkt im Fall des Widerspruchs die Pflicht des Jugendamtes zur Übergabe des Kindes oder des Jugendlichen an den Personen- oder Erziehungsberechtigten ein. Sie soll nur dann erfolgen, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder wenn die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden. Dies entspricht weitgehend der Auslegung der bisherigen Gesetzesfassung. Ob das Kindeswohl derzeit gefährdet ist, kann unter Auswertung der aus den Gesprächen mit dem Kind oder Jugendlichen und dem Personen- oder Erziehungsberechtigten gewonnenen Informationen und sonstiger Ermittlungsergebnisse (Berichte von Polizei, Freien Trägern der Jugendhilfe, Schule, Kindergarten usw.) festgestellt werden. Wird die Gefährdung verneint, so ist das Kind herauszugeben. Wird sie bejaht, so schließt sich die Prognoseentscheidung an, ob die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdun...