0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift wird durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz – KICK) v. 8.9.2005 (BGBl. I S. 2729) mit Wirkung zum 1.10.2005 völlig neu gefasst. Dabei werden die bisher in den §§ 42 und 43 geregelten vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen neu geordnet und in einer Norm konzentriert. Die begriffliche Differenzierung von Inobhutnahme und Herausnahme wird aufgegeben. § 43 erhält einen neuen Regelungsinhalt. Durch Art 2 Nr. 10 BKiSchG v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 2975) wurde mit Wirkung zum 1.1.2012 Abs. 2 Satz 3 letzter HS eingefügt. Die durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (VerbaKJUVBG) v. 28.10.2015 (BGBl. I S. 1802) mit Wirkung zum 1.11.2015 in das SGB VIII eingefügten §§ 42a bis 42f enthalten Regelungen zur vorläufigen Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher nach unbegleiteter Einreise, zu deren Verteilung auf die Bundesländer nach Aufnahmequoten und zur Altersfeststellung. Durch Art. 3 des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht v. 20.7.2017 (BGBl. I S. 2780) wurde mit Wirkung zum 29.7.2017 Abs. 2 Satz 5 angefügt, der die Regelung in Abs. 2 Satz 4 ergänzt. Durch Art. 1 Nr. 33 des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurden Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 mit Wirkung zum 10.6.2021 geändert. Damit wird der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur unverzüglichen und umfassenden adressatenorientierten Aufklärung des in Obhut genommenen Kindes oder Jugendlichen und seiner Personensorge- oder Erziehungsberechtigten verpflichtet (BT-Drs. 19/26107 S. 96).
1 Allgemeines
Rz. 2
Abs. 1 regelt die Voraussetzungen und Anlässe für die Inobhutnahme sowie die Befugnis des Jugendamtes zur vorläufigen Unterbringung und zur Herausnahme. Die Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher, die unbegleitet nach Deutschland kommen, wird neu eingefügt.
Abs. 2 umschreibt die Aufgaben des Jugendamtes während der Inobhutnahme, seine Beratungs- und Unterstützungspflichten, das Recht des Kindes oder des Jugendlichen zur Benachrichtigung einer Person seines Vertrauens, die Pflicht des Jugendamtes zur Sicherstellung von Unterhalt und Krankenhilfe und dessen Berechtigung zur Vornahme aller notwendigen Rechtshandlungen sowie die Pflicht zur Berücksichtigung des Willens des Personensorge- und des Erziehungsberechtigten.
Den Übergang zu einer dauerhaften Aufenthaltsregelung gibt Abs. 3 vor. Dabei besteht eine Pflicht zur Unterrichtung des Personensorgeberechtigten bzw. des Erziehungsberechtigten.
Daran anschließend definiert Abs. 4 die Beendigung der Inobhutnahme.
Die besonderen Voraussetzungen für freiheitsentziehende Maßnahmen regelt Abs. 5, für die Anwendung unmittelbaren Zwanges stellt Abs. 6 klar, dass es dafür besonderer Befugnisse bedarf.
2 Rechtspraxis
2.1 Geschützter Personenkreis
Rz. 3
Geschützt sind Kinder im Alter von weniger als 14 Jahren (§ 7 Abs. 1 Nr. 1) und Jugendliche, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 2). Die Inobhutnahme eines Ungeborenen kommt nicht in Betracht, erst recht nicht die Inobhutnahme eines eingefrorenen Embryos (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 15.1.2014, 12 A 2078/13). Unerheblich ist, ob sie unter elterlicher Sorge oder unter Pflegschaft oder Vormundschaft stehen. Ausländische Kinder und Jugendliche werden in Abs. 1 Satz 1 gesondert genannt. Junge Volljährige die 18, aber noch nicht 27 Jahre alt sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 3) und erst recht Volljährige gehören nicht zum geschützten Personenkreis. Das gilt auch für die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a (BVerwG, Urteil v. 26.4.2018, 5 C 11/17). Für sie kommt nicht die Inobhutnahme, wohl aber kommen Maßnahmen nach § 19 Abs. 1 (betreutes Wohnen), § 41 Abs. 1 (Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung) als Krisenintervention in Betracht.
Rz. 4
Die Altersfeststellung, d. h. eine Prüfung, ob es sich bei der betreffenden Person um einen Jugendlichen oder um einen jungen Erwachsenen handelt, der das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, kam und kommt bei Inländern nur selten vor. Das Jugendamt hat ggf. Ermittlungen zur Altersfeststellung nach Maßgabe der §§ 20, 21 SGB X durchzuführen. Seit 2015 sind jedoch zahlreiche unbegleitete, fast ausschließlich männliche Personen nach Deutschland eingereist, die sich als Minderjährige ausgeben. Vielfach sind bei ihnen Ausweispapiere oder sonstige schriftliche Angaben über das Alter nicht vorhanden. Mündliche Angaben sind ungenau oder sogar widersprüchlich. Falsche Altersangaben haben außerdem den Hintergrund, dass die Minderjährigkeit Vorteile bringt, etwa eine bessere Unterbringung durch das Jugendamt statt durch Ausländerbehörden in einer Flüchtlingsunterkunft sowie eine geringere Wahrscheinlichkeit, abgeschoben zu werden (Kirchhoff, in: Luther/Nellissen, Juris-PK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 42 Rz. 50). Dies hat der Gesetzgeber erkannt und...