Rz. 32
Bei Anwendung des EU-Rechts auf die Leistungserbringung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, wäre aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts eine Öffnung des Marktes für alle Anbieter unumgänglich mit erheblichen Folgen für das gesamte System der Kinder- und Jugendhilfe (so auch Kern, in: Schellhorn, SGB VIII, § 77 Rz. 25). Überwiegend wird bisher daher davon ausgegangen, dass es sich bei den Regelungen zur Leistungserbringung im Rahmen der sozialen Arbeit um zulässige nationale Sonderregelungen handelt, die vom Unionsrecht nicht erfasst werden (dazu Kern, in: Schellhorn, SGB VIII, § 77 Rz. 25). Richtigerweise dürfte davon auszugehen sein, dass der EU-ausländische Anbieter zu gleichen Bedingungen Marktzutritt haben müssen wie inländische Anbieter.
Rz. 33
Auch die Vorschriften über das öffentliche Vergabewesen (§§ 97 ff. GWB) könnten auf die Leistungserbringung nach dem Kinder- und Jugendhilferecht Anwendung finden, ebenfalls mit gravierenden Folgen. Diese Frage ist äußerst strittig (vgl. ausführlich zum Meinungsstand v. Boetticher/Münder, in: Münder u. a., FK-SGB VIII, § 77 Rz. 9 ff. und Ganske, in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 4. Aufl. 2017, § 103 Rz. 215 ff. und 220 ff.). Jedoch geht die wohl überwiegende Auffassung zutreffend davon aus, dass die Vorschriften des öffentlichen Vergaberechts für die öffentlich-rechtlichen Verträge nach §§ 77, 78a ff. keine Wirkung entfalten (so OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 27.9.2004, 12 B 1397/04; Kern, in: Schellhorn, SGB VIII, § 77 Rz. 27; Ganske, a. a. O., Rz. 220). Maßgebend dafür ist der Umstand, dass die öffentliche Jugendhilfe kein Auftraggeber ist, weil im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis des Jugendhilferechts nach § 5 Abs. 1 SGB VIII über die Auswahl der in Anspruch genommenen Träger der freien Jugendhilfe allein die Leistungsempfänger entscheiden. (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, ZfJ 2005 S. 484; VG Münster, JAmt 2005 S. 440; Wiesner, SGB VIII, § 77 Rz. 13; Ganske, a. a. O., Rz. 220 f.).
Rz. 33a
Im Übrigen stellen Vereinbarungen gemäß § 77 keine öffentlichen Aufträge gemäß § 99 GWB dar. Danach sind öffentliche Aufträge entgeltliche Verträge zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen, die Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Die Vergaberegeln der §§ 97 ff. GWB gelten danach nur für Beschaffungsverträge, bei denen den Leistungen der Bieter als Gegenleistung das Entgelt des öffentlichen Auftraggebers gegenübersteht. So bezweckt das Vergaberecht die Förderung des Wettbewerbs auf öffentlichen Beschaffungsmärkten, wenn dort ein öffentlicher Auftraggeber wie ein Privater als Nachfrager auftritt. Auch wenn die öffentlichen Träger der Jugendhilfe die Gebote der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten haben, sind bei der Gewährung von Jugendhilfeleistungen auch Faktoren zu berücksichtigen, die nicht von den Grundsätzen des Marktes und des freien Wettbewerbes bestimmt werden. So sind im Rahmen des Abschlusses von Vereinbarungen gemäß § 77 die Trägervielfalt, die unterschiedlichen Wertorientierungen, die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen (§ 3 Abs. 1) und damit einhergehend das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfeempfänger (§ 5 Abs. 1) sowie die Leistungsfähigkeit der Träger der freien Jugendhilfe zu berücksichtigen. Damit ist ein ausschließlicher Abschluss von Vereinbarungen mit einer begrenzten Zahl von ausgewählten Bietern im Vergabeverfahren nicht vereinbar (VG Münster, Beschluss v. 18.8.2004, 9 L 970/04). Vereinbarungen über die Gewährung sozialpädagogischer Familienhilfe oder Erziehungshilfe durch freie Träger stellen Dienstleistungskonzessionen dar, die als solche dem Vergaberecht nicht unterliegen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 18.3.2005, 12 B 1931/04).