0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist mit Art. 1, Art. 70 Abs. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022) mit Wirkung zum 1.1.2005 in Kraft getreten und hat zunächst keine Änderungen erfahren.
In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1514 S. 57) wurde ausgeführt:
"Die Regelung überträgt inhaltsgleich den bisherigen § 6 des Bundessozialhilfegesetzes."
Durch Art. 13 Nr. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) wurde Abs. 2 Satz 2 mit Wirkung zum 1.1.2020 gestrichen. Es handelt sich um eine Folgeänderung zur Neuregelung der Eingliederungshilfe im Neunten Buch durch das BTHG (vgl. BT-Drs. 18/9522 S. 332): Durch das Herauslösen der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII und Übertragung in das SGB IX wurde der Verweis in § 15 Abs. 2 Satz 2 auf § 54 hinfällig.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die aus dem BSHG vollständig übernommene Regelung hat immer schon die grundlegende Aufgabe der Sozialhilfe beschrieben und wiederholt, dass dazu beizutragen ist, dass die betroffenen Menschen befähigt werden, i. S. d. § 1 unabhängig von Sozialhilfe zu leben (vgl. Armborst, in: Sozialgesetzbuch XII – Sozialhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 12. Aufl. 2020, § 15 Rz. 2).
Ziel dieser Regelung – aber auch des gesamten SGB XII – ist es, Hilfe auf der einen Seite so früh wie möglich anzubieten und auf der andere Seite so lange "nachgehend" zu helfen, dass ein zwischenzeitlich eingetretener Erfolg längstmöglich und auch nachhaltig gesichert wird. Dies ist auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes "Hilfe zur Selbsthilfe" und der Bedeutung der Prävention zu sehen. Insoweit stellt die Vorschrift eine erhebliche Durchbrechung des das Sozialhilferecht prägenden Grundsatzes der Behebung von gegenwärtigen Notlagen dar (vgl. Bieback, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII – Sozialhilfe, Kommentar, 7. Aufl. 2020, § 15 Rz. 1, Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB, 12/18, SGB XII, § 15 Rz. 1).
Es handelt sich bei der Vorschrift nicht um eine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern sie steht rechtlich im Zusammenhang mit der jeweiligen, in § 8 genannten Hilfe- bzw. Leistungsart (vgl. BSG, Urteil v. 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R). Im Gesetz nicht vorgesehene, sozialhilferechtlich irrelevante Bedarfe können somit nicht gedeckt werden. Der Umstand, dass § 15 keine neue Leistungsart einführt, darf allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, die Vorschrift hätte für die Sozialhilfeträger lediglich einen unverbindlichen, programmatischen Charakter im Sinne einer Handlungsempfehlung (Bieback, a. a. O., § 15 Rz. 3). § 15 erweitert vielmehr die Tatbestände der existierenden Leistungsarten in zeitlicher Hinsicht nach vorn bzw. nach hinten (vgl. Waldhorst-Kahnau, in: jurisPK-SGB XII, § 15 Rz. 9, 13).
Die Regelung ist in engem Zusammenhang mit der das Einsetzen der Sozialhilfe ab Kenntnis regelnden Vorschrift des § 18 Abs. 1 zu sehen (Armborst, a. a. O., § 15 Rz. 1).
2 Rechtspraxis
2.1 Vorbeugende Hilfe
Rz. 3
Die mögliche Anwendung bzw. Gewährung von vorbeugender Hilfe gemäß Abs. 1 ist bei allen sozialhilferechtlich relevanten drohenden Notlagen denkbar, die dem Sozialhilfeträger i. S. d. § 18 Abs. 1 bekannt werden (vgl. Armborst, a. a. O., § 15 Rz. 3). Durch die frühzeitige und präventive Hilfe soll das Eintreten einer Notlage nach dem SGB XII vermieden werden, wovon i. d. R. nicht nur die Leistungsberechtigten, sondern auch die Sozialhilfeträger profitieren, für die die präventiven Hilfen in diesem Sinne oftmals kostengünstiger sind (vgl. Bieback, a. a. O., Rz. 1, 7).
Die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals einer drohenden Notlage müssen als gegeben angenommen werden, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung und den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles mit dem baldigen Eintritt einer Notlage zu rechnen ist (vgl. Luthe, a. a. O., § 15 Rz. 5 m. w. N.). Hierbei muss es sich um eine konkrete und sozialhilferechtlich relevante Notlage handeln, was bei abstrakten Gefahren und Risiken sowie bei die Allgemeinheit betreffenden Notlagen nicht der Fall ist (vgl. Bieback, a. a. O., § 15 Rz. 15 m. w. N.). Es handelt sich um einen grundsätzlich weit auszulegenden unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. Bieback, a. a. O., Rz. 12; Luthe, a. a. O., Rz. 5). Nach dem Gesetzestext soll vorbeugende Hilfe zudem nur dann geleistet werden, wenn die drohende Notlage dadurch ganz oder teilweise abgewendet werden kann. Aus dem Wortlaut ergibt sich, dass die Abwendung der Notlage nicht mit absoluter Sicherheit durch die Hilfeleistung eintreten muss. Es genügt, dass der gewünschte Erfolg der vorbeugenden Hilfe hinreichend wahrscheinlich ist.
Vorbeugende Hilfe in diesem Sinne kann z. B. die Schuldnerberatung sein, wenn dadurch Sozialhilfebedürftigkeit vermieden werden kann. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG jedoch nicht für erwerbsfähige Hilfebedürftige, für die vorrangig die Vorschriften des SGB II maßgeblich sind (vgl. BSG, Urteil v. 13.7.2010, B 8 SO 14/09 R). Glei...