Rz. 76
Eine individuelle Festsetzung des Bedarfs nach der Abs. 4 Satz 1 2. Var. in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung kommt in Betracht, wenn der Bedarf seiner Höhe nach von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Dabei ist insoweit unstreitig, dass die Abweichung erheblich sein muss. Streitig war hier allerdings, ob nach dieser Vorschrift – von Ausnahmefällen abgesehen – eine Anpassung nach unten überhaupt in Betracht kommt (dazu z. B. Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 6. EL 2023, § 27a Rz. 66 m. w. N.; Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Stand: 19.2.2021, § 27a Rz. 99; Roscher, in: LPK-SGB XII, 12. Aufl. 2020, § 27a Rz. 29). Nach dem Wortlaut und im Vergleich zur Fassung der Regelung des § 37 Abs. 1 sprechen die besseren Gründe dafür, die Möglichkeit einer Leistungsabsenkung auch im Rahmen der 2. Var. anzunehmen (so auch Falterbaum, a. a. O.). Praxisrelevant ist die Anwendung der Vorschrift insoweit ohnehin kaum.
Rz. 77
Unabweisbar ist ein (überdurchschnittlicher) Bedarf, wenn er nicht durch zumutbare Maßnahmen des Leistungsberechtigten beseitigt werden kann und auch den Rahmen des im Bereich der Existenzsicherung Angemessenen nicht übersteigt (so Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Stand: 19.2.2021, § 27a Rz. 105, der zutreffend darauf hinweist, dass der Gesetzeswortlaut ohne nachvollziehbaren Grund seit dem 1.1.2017 von "unausweichlich" spricht).
Rz. 78
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Bedarfsabweichung (nach oben oder unten) als erheblich anzunehmen ist, kann nur schwer beantwortet werden. Es handelt sich jedoch um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Hintergrund für die Problematik ist u. a. der relativ große Spielraum, den der Gesetzgeber bei der Bemessung der pauschalierten Bedarfe hat, und dass es dem Leistungsberechtigten grundsätzlich zugemutet wird, überdurchschnittliche Bedarfe in einzelnen Bereichen durch Einsparungen in anderen Bereichen eigenverantwortlich auszugleichen (vgl. Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 6. EL 2023, § 27a Rz. 67 unter Hinweis auf BVerfG, Urteil v. 9.2.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rz. 138, 152 und 205). Die Gesetzesbegründung gibt für die Lösung kaum Anhaltspunkte. Danach (BT-Drs. 15/1514 S. 59) liegt ein seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichender Bedarf beispielsweise vor, wenn ein Leistungsberechtigter teurere Unter- oder Übergrößen tragen muss.
Rz. 79
Sinnvoll erscheint es, zwischen der zeitlichen und der wirtschaftlichen Komponente zu unterscheiden. Was die zeitliche Komponente angeht, ist es im Hinblick auf die Anknüpfung an den Monatszeitraum in Abs. 3 Satz 1 nicht zu beanstanden, wenn auch für den Begriff der nicht nur vorübergehenden Dauer hierauf abgestellt wird (vgl. Scheider, in: Schellhorn/Hohm/Scheider, 19. Aufl. 2015, § 27a Rz. 49). Was die Erheblichkeit der Abweichung in wirtschaftlicher Hinsicht angeht, gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte. Unter Hinweis auf den Beschluss des BVerwG v. 30.12.1996 (5 B 47/96) schlägt Scheider (a. a. O.) einen Richtwert von 5 % des (Eck-)Regelsatzes vor. Während Jehle noch in der Vorkommentierung als "Faustregel" von etwa 10 % ausging, vermag Adolph keinen einheitlichen Vomhundersatz festzustellen (in: Linhart/Adolph/Jehle, SGB XII, Stand: 95. EL März 2016, § 27a Rz. 99). Nach noch a. A. soll ein Mindestbetrag i. H. v. etwa 15,00 EUR gelten (vgl. Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 27a Rz. 57 m. w. N.).
Rz. 80
Im Ergebnis kommt es immer auf eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung von Kompensationsmöglichkeiten an (vgl. ausführlich OVG Niedersachsen, Urteil v. 28.2.1996, 4 L 7342/95, Rz. 23; BSG, Urteil v. 11.12.2007, B 8/9b 21/06 R, Rz. 28 mit Hinweis auf BVerwG, Urteil v. 16.1.1986, 5 C 72/84, Rz. 28). Für Abweichungen nach unten waren bis zum 31.12.2016 einerseits der Verwaltungsaufwand zu berücksichtigen, der mit einer abweichenden Festsetzung einhergeht, anderseits aber auch Gleichbehandlungsgesichtspunkte im Verhältnis zu anderen Leistungsempfängern (zu Beispielen aus der Rechtsprechung, in denen eine erhebliche Bedarfsabweichung (nicht) angenommen wurde vgl. Rz. 94).
Rz. 81
Notwendig, aber im Einzelfall schwierig, ist die Abgrenzung von Satz 1 2. Var. in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung zu § 73. Eine abweichende Bedarfsbemessung erfordert nach den vorstehenden Ausführungen, dass es sich um einen vom Regelsatz eindeutig umfassten (und damit eher "normalen") Bedarf handelt, der "nur" erheblich über dem Durchschnitt liegt, wohingegen § 73 sog. atypische Bedarfe erfasst (vgl. die dortige Komm.). § 73 betrifft Bedarfe, die zwar ihrer Art nach eine gewisse Nähe zu den in den §§ 27 bis 74 geregelten Bedarfen aufweisen, davon aber typischerweise nicht erfasst werden (zu Einzelheiten vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 23.5.2011, L 20 AY 19/08, Rz. 31). Eine strenge systematische Grenzziehung ist insoweit wohl nicht möglich, soda...