Rz. 21
Ob eine Person erwerbsfähig ist, hängt nicht nur von ihrem zeitlichen Leistungsvermögen ab, sondern ist auch an den realen Anforderungen der Berufswelt zu messen. Damit hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BSG aufgegriffen, wonach dem Betroffenen der Zugang zum Arbeitsmarkt trotz vollschichtigem Leistungsvermögen praktisch verschlossen ist, wenn er krankheitsbedingt keine "Erwerbstätigkeit unter den in Betrieben üblichen Bedingungen" mehr ausüben kann (sog. 1. Katalog- und Seltenheitsfall, vgl. BSG, Urteile v. 27.5.1977, 5 RJ 28/76, SozR 2200 § 1246 Nr. 19, und v. 18.2.1981, 1 RJ 124/79, SozR 2200 § 1246 Nr. 75). Die hierzu entwickelte Rechtsprechung ist auf die gesetzliche Neuformulierung übertragbar.
2.3.5.1 Allgemeiner Arbeitsmarkt
Rz. 22
Maßstab für die Feststellung des Leistungsvermögens ist die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt wird Arbeitskraft angeboten und nachgefragt. Der Begriff "allgemein" grenzt Sonderarbeitsmärkte wie den sog. zweiten – öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt ebenso aus wie Tätigkeiten in beschützenden Einrichtungen i. S. d. § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI (Brühl/Schoch, LPK-SGB XII, § 41 Rz. 12). Der sog. zweite Arbeitsmarkt hat sich durch die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesagentur für Arbeit und durch die "lokale" Beschäftigungspolitik vieler Kommunen gebildet und erfasst vor allem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Zugang zu diesem zweiten Arbeitsmarkt haben i. d. R. nur Leistungsempfänger nach dem SGB II und III, so dass nicht von einem "allgemeinen", sondern nur von einem Sonderarbeitsmarkt gesprochen werden kann (a. A. Kamprad, in: Hauck/Noftz, SGB VI, § 43 Rz. 36). Dasselbe gilt für Tätigkeiten in beschützenden Einrichtungen, in die regelmäßig nur Menschen aufgenommen werden, die sich wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung (noch) nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt behaupten können.
Der Begriff des allgemeinen Arbeitsmarktes erfasst damit alle Tätigkeiten des sog. ersten Arbeitsmarktes, für die im Inland tatsächlich Angebot und Nachfrage bestehen, mit Ausnahme beschützter und sozial vollständig subventionierter Arbeitsplätze (vgl. auch Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, K § 41 Rz. 20). Kann ein Antragsteller krankheitsbedingt nur noch in beschützten Einrichtungen oder auf öffentlich geförderten Arbeitsplätzen (z. B. als "Fahrradwächter an öffentlichen Schulen") beschäftigt werden, so ist sein Einsatz unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr möglich. Benötigt der Betroffene dagegen nur eine besondere Arbeitsplatzgestaltung (z. B. behindertengerechte Sitzmöbel, höhenverstellbare Schreibtische u.Ä.), so kommen in erster Linie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX) in Betracht. Ein entsprechend ausgestatteter, behindertengerechter Arbeitsplatz ist dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnen.
2.3.5.2 "Übliche" Arbeitsmarktbedingungen
Rz. 23
Da sich die Anforderungen der Arbeitswelt ständig wandeln, lässt sich der unbestimmte Rechtsbegriff der üblichen Bedingungen nicht abschließend konkretisieren. Benötigt ein Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen "Sonderbedingungen", so sind sie "üblich", wenn Arbeitsverträge zu diesen Konditionen in nennenswerter bzw. "beachtlicher" Zahl abgeschlossen werden. Diese "Sonderkonditionen" müssen keinesfalls in der Mehrzahl der Beschäftigungsverhältnisse vorliegen (BSG, Urteile v. 20.6.1978, 7 RAr 45/77, SozR 4100 § 103 Nr. 17, und v. 30.5.1984, 5a RKn 18/83, SozR 2200 § 1247 Nr. 43).
Rz. 24
Welche Bedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt "üblich" sind, lässt sich in erster Linie den gesetzlichen Vorschriften und Tarifverträgen entnehmen, kann sich aber auch aus Betriebsvereinbarungen sowie betrieblicher oder sonstiger Übung im Arbeitsleben ergeben. Wie Arbeitsräume, -plätze und -umgebung eingerichtet und betrieben werden müssen, richtet sich z. B. nach der Arbeitsstättenverordnung, den sonst geltenden Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften, den allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln sowie den sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen. So kann ein Antragsteller, der wegen eines imperativen Stuhldrangs nur in der Nähe einer Toilette arbeiten darf, noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig werden; denn die Arbeitsstättenverordnung schreibt vor, dass der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern "in der Nähe der Arbeitsplätze besondere Räume mit einer ausreichenden Zahl von Toiletten und Handwaschbecken (Toilettenräume) zur Verfügung stellen" muss (Ziff. 4.1 Abs. 1 Satz 2 des Anhangs zur Arbeitsstättenverordnung v. 12.8.2004, BGBl. I S. 2179; vgl. LSG Berlin, Urteil v. 10.3.2000, L 5 RJ 32/97).
Rz. 25
Ob unübliche Arbeitsbedingungen vorliegen, ist insbesondere dann zu prüfen, wenn der Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen Arbeitsunterbrechungen braucht, die über seinen gesetzlichen Pausenanspruch hinausgehen. Nach § 4 Satz 1 und 2 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) v. 6.6.1994 (BGBl. I S. 1170) ist jedem Arb...