Rz. 37
Eine Vielzahl qualitativer Leistungseinschränkungen kann dem Betroffenen den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt verschließen, auch wenn er imstande ist, täglich 3 Stunden unter betriebsüblichen Bedingungen zu arbeiten (kritisch: Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, K § 41 Rz. 24).
Rz. 38
Diese Rechtsfigur kommt allerdings nur in Betracht, wenn das qualitative Leistungspotential auf körperlich leichte Arbeiten begrenzt ist (erster Prüfungsschritt; vgl. Spiolek, NZS 1997 S. 415; Loytved, NZS 1999 S. 276, 278). Kann der Betroffene noch gelegentlich mittelschwere Arbeiten verrichten, scheidet eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen von vornherein aus. Andernfalls sind in einem zweiten Prüfungsschritt alle qualitativen Einschränkungen zu eliminieren, die bereits vom Begriff der "körperlich leichten Arbeit" miterfasst werden (Loytved, a. a. O.). Dazu zählen z. B. der Ausschluss von Halte-, Hebe- und Tragebelastungen über 10 kg, von Überkopfarbeiten sowie das Unvermögen, in Zwangshaltungen (Hocken, Bücken) zu arbeiten (BSG, Urteil v. 11.5.1999, B 13 RJ 71/97 R, SozR 3-2600 § 43 Nr. 21), auf Gerüste zu klettern und auf Leitern zu steigen (BSG, Urteil v. 19.8.1997, B 13 RJ 91/96). Auch Akkordarbeit und Schichtdienst werden vom Begriff der leichten Tätigkeit mit umfasst (BSG, Urteil v. 1.3.1984, 4 RJ 43/83, SozR 2200 § 1246 Nr. 117).
Dagegen stellen alle anderen beruflichen Belastungen, die auch bei körperlich leichten Tätigkeiten vorkommen (können), ungewöhnliche Leistungseinschränkungen dar, wenn ihnen der Betroffene nicht mehr gewachsen ist. Hierzu gehören beispielsweise Einschränkungen der Handbeweglichkeit und erhebliche Sehstörungen (BSG, SozR 3-2600 § 43 Nr. 21), die Vermeidung bestimmter äußerer Einflüsse (BSG, Urteil v. 19.8.1997, 13 RJ 49/97, MittLVA Oberfranken 1998 S. 255), der Ausschluss von Arbeiten im Sitzen, unter Akkordbedingungen und an gefährlichen Maschinen (BSG, Urteile v. 19.8.1997, 13 RJ 91/96 und 13 RJ 49/97, MittLVA Oberfranken 1998 S. 255).
Verbleibt eine erhebliche Anzahl dieser ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen, so ist in einem dritten Schritt zu prüfen, ob ernste Zweifel daran aufkommen, dass der Betroffene noch Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt hat. In allen Zweifelsfällen sind dem Betroffenen sog. Verrichtungen "der Art nach" zu benennen (z. B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.), die in körperlich leichten und geistig einfachen Tätigkeiten üblicherweise gefordert zu werden pflegen (BSG, Großer Senat, Beschluss v. 19.12.1996, GS 2/95, SozR 3-2600 § 44 Nr. 8). Reicht das Leistungsvermögen hierfür nicht mehr aus, so ist der Betroffene voll erwerbsgemindert, wenn ihm keine konkrete Verweisungstätigkeit benannt werden kann. Auch hierbei ist zu beachten, dass auf Tätigkeiten nicht verwiesen werden darf, die auf dem Arbeitsmarkt nur in ganz geringer Zahl vorkommen (Katalogfall Nr. 3), die an Berufsfremde nicht vergeben werden (Katalogfall Nr. 4) oder für Betriebsfremde unzugänglich sind, weil es sich um reine Schonarbeitsplätze (Katalogfall Nr. 5) oder Aufstiegspositionen (Katalogfall Nr. 6) handelt. Zum Ausschluss eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung ist eine konkrete Verweisungstätigkeit nur dann zu benennen, wenn ernste Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Versicherten für Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts verbleiben (BSG, Urteil v. 19.10.2011, B 13 R 78/09 R, BSGE 109 S. 189 = NZS 2012 S. 302).
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Da die denkbaren Kombinationsmöglichkeiten der qualitativen Leistungseinschränkungen unüberschaubar sind und die Summanden je nach Schweregrad, Anzahl und Wechselwirkungen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können, lässt sich nur anhand des konkreten Einzelfalls entscheiden, ob in der Gesamtheit "eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vorliegt.